Die gestohlene Zeit
auf die Gummisohle hinunter und suchte nach der Marke, »… Wolfskin getragen«, schüttelte ich eine Ausrede aus dem Ärmel.
»Nein, wahrhaftig nicht«, stimmte Jonathan aus tiefster Überzeugung zu, aber immerhin zog er die Dinger unter einigen Schwierigkeiten an. Sie waren ihm zwar etwas zu groß, doch den Abstieg würde er damit problemlos schaffen.
»Ihr seid Studenten, was? Jaja, damals hatten wir auch kein Geld für Markenklamotten, stimmt’s, Bastian?«, sagte die Frau wohlwollend und lächelte zu dem Grauhaarigen hinüber.
Ich nickte hastig und hoffte nur, sie würden das Thema nicht vertiefen. Zum Glück erforderte der Abstieg doch unsere ganze Konzentration, so dass wir nicht mehr viel redeten, sondern schweigend hintereinander herpilgerten. Jonathan und ich bildeten das Schlusslicht. Erst nach einer Stunde Fußmarsch hörte ich auf, mich alle paar Sekunden umzusehen, und entspannte mich langsam. Die Zwerge hatten es nicht geschafft, uns zu verfolgen. Nun konnte eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. Ich sollte mich gründlich irren.
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Kapitel 7
Z ögernd stand Frank vor der geschlossenen Tür der juristischen Kanzlei »von Hassell & Partner«. Sollte er anklopfen oder einfach reingehen? Am liebsten hätte er die Tür eingetreten, so sauer war er auf Udo. Ich sollte ihm endlich mal eine in die Fresse hauen, dachte Frank. Und wenn er fragt, warum, gleich noch eine. Gleichzeitig war Frank jedoch klar, dass das nie passieren würde. Weil er sich nicht mal traute, gegen Udo aufzumucken, geschweige denn, ihm eine zu verpassen. Nach wie vor hatte er Macht über Frank. So wie damals in der Schule. Und auch heute noch war es Udo, der bestimmte, wo es langging.
Warum lasse ich mir das eigentlich gefallen?, dachte Frank. Eigentlich wäre doch ich jetzt mal dran! Aber natürlich wusste er die Antwort. Weil es schon immer so gewesen war. Doch er hatte noch einen Verdacht, warum Udo ständig auf der Erfolgswelle segelte: wegen dieses verdammten Rings. Frank hatte vor vielen Jahren nur einen Blick darauf werfen können, bevor Udo ihn hastig in seiner Hosentasche hatte verschwinden lassen, aber er hatte es genau gespürt: Irgendetwas ging von diesem Schmuckstück aus, ein Zauber oder eine fremde Macht. In dieser einen, kurzen Sekunde hatte Frank gewusst, dass er nie wieder der Verlierer sein würde, wenn er nur diesen Ring besitzen würde. Doch Udo hatte ihn natürlich nicht mehr rausgerückt, und Frank war zu ängstlich gewesen, seinen kräftigen Kumpel herauszufordern.
Doch während an Frank die Rolle des Verlierers kleben blieb wie Teer an der Straße, war Udo seitdem alles im Leben zugeflogen. Angefangen damit, dass er aus der Sache mit Emilia Wiltenbergs Verschwinden völlig unbeschadet herausgekommen war. Obwohl mindestens die halbe Ausflugsgruppe beobachtet hatte, wie er und Frank ihr gefolgt waren, und sie daher die Letzten gewesen sein mussten, die sie gesehen hatten, war keiner auf die Idee gekommen, der Polizei gegenüber diese Tatsache zu erwähnen. Es wirkte fast, als hätten es alle vergessen.
Damals war Frank einfach nur froh gewesen, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Zwar hatte er seitdem nachts oft Träume, die sich von denen unterschieden, die er vor der Kursfahrt von Emma, wie er sie insgeheim für sich nannte, gehabt hatte. Nach ihren Unterrichtsstunden hatte Frank immer noch ihre großen graugrünen Augen vor sich gesehen und ihre vollen Lippen, die ihn anlächelten. Er hatte sich erträumt, wie sie mit ihren langen, schmalen Fingern über sein Gesicht strich und dabei seinen Namen flüsterte. Nach ihrem Verschwinden kamen jedoch Alpträume, in denen Emma verzweifelt um Hilfe rufend durchs Gebirge irrte, während Blut aus ihrer Wunde am Hinterkopf strömte, aber er schaffte es, die Bilder zu verdrängen. Vier, fünf Bier und dazu jeweils ein Schnaps halfen ihm dabei. Später hatte er sich aber oft gefragt, wieso nicht die Lehrer noch mehr nachgebohrt hatten. Kurz nachdem Emmas Fehlen bemerkt worden war, hatte der olle Spindler Udo angesprochen, daran erinnerte Frank sich genau. Und auch, wie eiskalt sein Mitschüler dem Lehrer ins Gesicht gelogen und später Frank bedroht hatte, keinem auch nur ein Sterbenswörtchen von der Sache mit Emma und dem Ring zu verraten.
Sterbenswort, ja, das passt, dachte er und schauderte, weil er sich fragte, wo Emmas Knochen jetzt wohl lagen. Für Udo dagegen war seitdem alles super gelaufen – und für ihn alles ziemlich beschissen, dachte
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