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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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heiter werden.
    »Na, wart ihr auch auf dem Rosengarten?«, fragte der eine freundlich, ein grauhaariger Mann Mitte fünfzig, der mich an Lehrer Spindler erinnerte.
    »Nein, wir waren
im
Rosengarten, und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Machen Sie das nicht nach, mit Zwergen ist nicht zu spaßen«, hätte ich ihm am liebsten geantwortet. Aber ich nickte nur artig, obwohl sich meine Hand unwillkürlich zu meiner Schulter stahl, von der die ganze Zeit ein unangenehmes Kribbeln ausging.
    »Wir haben auf einer Berghütte ein paar Gipfel weiter übernachtet, also das war ein unglaubliches Erlebnis«, schwärmte die Frau. »Fast hätte man meinen können, bei Sonnenaufgang den Rosengarten von diesem sagenhaften König Laurin zu sehen, so rot hat der Fels aus der Entfernung geschimmert«, fuhr sie begeistert fort.
    Jonathan und ich tauschten nur einen Blick, anschließend brachte ich meine Bitte vor. »Mein Freund hat ein kleines Problem …« Jonathan nickte und deutete nach unten.
    »Junge, wo hast du denn deine Schuhe gelassen?«, rief die Frau und musterte seine bloßen Füße entgeistert. Mit ihrer etwas stämmigen Figur, den kurzen, graublonden Haaren und einem rot-weiß-karierten Hemd machte sie einen mütterlich-robusten Eindruck.
    Jonathan öffnete den Mund, doch ich kam ihm zuvor.
    »Genau das ist unser Problem«, sagte ich hastig. »Wir haben da hinten eine Pause gemacht«, vage deutete ich mit der Hand ins gebirgige Nirgendwo, »und haben unsere Wanderstiefel ausgezogen. Wir waren ziemlich nah am Abhang, und na ja … da sind irgendwie seine Schuhe runtergefallen …«
    »Das kommt davon, wenn junge, unerfahrene Leute in die Berge gehen! Typischer Anfängerfehler, am Berghang zu rasten«, meldete sich nun der Dritte zu Wort, der bisher geschwiegen hatte. Er war groß und kräftig, trug einen dunklen Vollbart und war etwas jünger als die anderen beiden. Finster musterte er uns, und es war ihm anzusehen, was er über zwei Grünschnäbel in den Bergen dachte. Wenn du wüsstest, schoss es mir durch den Kopf, doch ich zog es vor, ihm lieber nicht unter die Nase zu reiben, auf welche Weise Jonathan wirklich seine Schuhe, wahrscheinlich irgendwelche Lederstiefel oder was 1787 eben gerade so Mode war, eingebüßt hatte. Auch Jonathan sagte keinen Ton, sondern hatte einen zerknirschten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
    »Komm schon, Josef, es nützt nichts, über verschüttete Milch zu jammern«, wies die Frau den Kräftigen zurecht. »Sehen wir lieber, wie wir dem jungen Mann helfen können.«
    »Du hast doch noch deine Trekkingsandalen im Rucksack, oder? Die tun es bestimmt, bis wir im Tal sind, so steil ist der Abstieg ja nicht mehr«, meldete sich der grauhaarige Mann zu Wort. Grummelnd zog der Bärtige seinen Rucksack von den Schultern und kramte ein Paar Sandalen heraus, die sicher praktisch waren, aber mit ihrer breiten Form und den graubraun gemusterten Riemen aussahen, als hätte sich ein Paar Klettverschlüsse mit einem Tretboot gepaart. Schick war anders, aber Hauptsache, Jonathan hatte was an den Füßen. Der Mann mit dem Namen Josef streckte sie Jonathan hin, der sie vorsichtig an sich nahm.
    »Das ist echt nett von Ihnen, vielen Dank«, flötete ich und schenkte dem edlen Spender mein schönstes Lächeln. Jetzt verzog sich die bärtige Hälfte seines Gesichts doch zu so etwas wie einem Grinsen.
    Allerdings verschwand es gleich wieder, denn Jonathan machte keine Anstalten, die Sandalen anzuziehen. Stattdessen hielt er sie ein Stück von sich weg und zog immer wieder die Klettverschlüsse auf, ehe er sie wieder schloss.
    »Hast du irgendein Problem mit meinen Schuhen?«, fragte Josef gereizt. Auch ich wusste nicht, was Jonathan da trieb. Ekelte er sich etwa vor den getragenen Schuhen? In seiner Situation konnte er jedoch nicht wählerisch sein, und ich wollte ihn schon anmeckern, da blickte er hoch.
    »Keine einzige Schnalle – doch es hält zusammen! Das ist höchst erstaunlich«, rief er bewundernd. Seine Augen leuchteten. Er erinnerte mich an ein Kind, das zum ersten Mal etwas Neues und Wunderbares entdeckt.
    Genauso war es ja auch, fiel mir ein. Woher hätte Jonathan aus dem 18 . Jahrhundert das Prinzip eines Klettbandes kennen sollen? Das konnte ich der Wandertruppe aber schlecht erklären, daher versetzte ich Jonathan unauffällig einen leichten Stoß. »Reiß dich zusammen«, flüsterte ich. Dann strahlte ich den Schuhbesitzer an.
    »Er hat noch nie Schuhe von …«, hastig blickte ich

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