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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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zerfallen war. Er schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er meinte: »Eine Familie bedeutet nicht immer Glück, Emma. Vor allem nicht, wenn für den Vater nur Macht und Geld zählen.«
    Ich nickte stumm. Da war es mir besser ergangen. Ich hatte in Caro nicht nur eine Freundin, sondern auch so was wie Mutter und Schwester in einem gefunden.
    »Du sagtest, hier an der Oberwelt zählen wir inzwischen das 20 . Jahrhundert. Was ist inzwischen in der Welt passiert?«, fragte Jonathan und zog zu meinem Bedauern seine Hand zurück.
    »Oh Mann, wo soll ich da anfangen«, rief ich und überlegte, wie ich ihm mein ganzes Studienfach Geschichte im Schnelldurchlauf erklären sollte. »Hm, also, die Monarchie in Deutschland gibt es nicht mehr«, fing ich an. »Wir haben jetzt einen Bundeskanzler als Oberhaupt.«
    »Oh«, erwiderte Jonathan, und ich glaubte in seinem Gesicht Enttäuschung zu sehen.
    » 1789 gab es die Französische Revolution, die mit dem Sturm auf die Bastille anfing und an deren Ende Louis-Seize, Marie-Antoinette und Madame du Barry auf der Guillottine endeten«, fuhr ich fort.
    »Nicht möglich!«, rief Jonathan verblüfft. Ich musste mir erst ins Gedächtnis rufen, was diese Ereignisse für ihn bedeuteten. Für ihn hatte die Französische Revolution quasi gerade erst stattgefunden und musste eine ziemliche Sensation sein.
    »Wie dem auch sei, danach wurde ein gewisser Napoleon Bonaparte Kaiser von Frankreich, und auch in Deutschland war er noch in zwei heftige Kriege verwickelt. Aber darüber leihe ich dir gerne mal ein Buch, wenn ich wieder zu Hause bin«, versuchte ich abzubiegen, ehe ich noch einen kompletten Vortrag über den Ersten und Zweiten Weltkrieg halten musste.
    »Zu Hause«, wiederholte Jonathan nachdenklich, und schlagartig fiel mir ein, dass es das für ihn nicht mehr gab. Wo sollte er hin – nach zweihundert Jahren in Laurins Felsenreich? Er konnte wohl schlecht in das ehemalige Haus seines Vaters spazieren, sofern es überhaupt noch stand, und den Nachfahren zurufen: »Hallöchen zusammen, ich war kurz mal zwei Jahrhunderte weg, aber nun bin ich wieder zurück!«
    Er schien ähnliche Gedanken zu hegen, denn seine Miene hatte sich verdüstert. »Mach dir keine Sorgen«, schwindelte ich, »wir finden eine Lösung für dich!« Er nickte halbherzig, aber zwischen seinen dunklen Augenbrauen hatte sich eine steile Sorgenfalte gebildet.
    »Ehrlich, Jonathan, ich lasse dich nicht im Stich«, versicherte ich. Jetzt drehte er den Kopf und schenkte mir ein so hoffnungsvolles Lächeln, das ich einfach erwidern musste. Einen Wimpernschlag lang rückten alle Probleme, alle Ängste und das Schreckliche, was wir erlebt hatten, in den Hintergrund, und es gab nur noch Jonathan und mich. Ihm in die Augen zu sehen, war wie in einen stillen, klaren See zu tauchen, in dessen Tiefe aller Lärm der Welt für ein paar kostbare Augenblicke verstummte.
    Doch schon war der Zauber gebrochen, denn muntere Stimmen wurden laut, die rasch näher kamen. Jonathan sprang auf und blieb geduckt hinter dem Felsblock stehen, seinen Körper in Angriffstellung. Kurze Zeit später entspannte sich seine Miene. »Drei Menschen«, verkündete er. Das mussten die Wanderer sein, die ich vorhin gesehen hatte.
    »Überlass mir das Reden, okay?«, flüsterte ich ihm hastig zu. Er wollte widersprechen, aber dann nickte er widerwillig. Schnell drückte ich ihm die Rose in die Hand. »Vielleicht kannst du sie unter deinem Hemd verstecken, sonst müssen wir uns nur unangenehme Fragen gefallen lassen«, erklärte ich hastig. Stumm tat er wie geheißen.
    Anschließend trat ich entschlossen hinter dem Felsen hervor, gefolgt von Jonathan. »Hallo«, rief ich dem Grüppchen zu, die nun nur noch ein paar Meter von uns entfernt waren. Zwei Männer und eine Frau blickten kurz überrascht, dann lächelten sie mich an.
    »Servus«, antworteten sie unisono mit dem Bergsteigergruß, auch wenn der Blick der Frau etwas irritiert an dem Mieder meines Kleides hängen blieb, das ich in Ermangelung meines Wanderhemdes, das irgendwo im Felsenreich Laurins herumlag, immer noch trug. Wie hätte sie wohl erst geschaut, wenn ich noch das Brautkleid in seiner vollen Pracht getragen hätte, dachte ich, und ein nervöses Kichern stieg in meinem Bauch hoch. Energisch rief ich mich zur Ordnung.
    »Guten Morgen«, sagte Jonathan artig und machte schon wieder eine seiner knappen Verbeugungen. Die drei Wanderer starrten ihn verblüfft an. Himmel, dachte ich, das kann ja

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