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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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hilflos und verzweifelt aus. »Mir war, als würde die Zeit dort unten im Zwergenreich kaum vergehen, aber sie schien mir nicht so lange, um mehrere Menschenleben zu überdauern«, murmelte er ratlos.
    »Vielleicht hat Laurin dich verzaubert, während du geschlafen hast, so dass du nicht gealtert bist und daher auch nicht gestorben«, mutmaßte ich.
    »Das wäre diesem hinterlistigen Zwerg zuzutrauen«, nickte Jonathan. »Auf diese Weise hätte er mich als seinen Sklaven jahrhundertelang in seinen Diensten gehabt.«
    »Wahrscheinlich hätte er nach der Heirat mit mir dasselbe gemacht, um mich für immer bei sich zu behalten«, sagte ich und erschauerte bei dem Gedanken an die lichtlose Ewigkeit in Laurins steinernem Palast, die beinahe für mich Wirklichkeit geworden wäre. Zum Glück war mir die Flucht gelungen, ehe mich ein ähnlicher Zauber getroffen hatte, der mich die Zeit vergessen ließ. Ich war mir ziemlich sicher, dass nicht mehr als zwei, höchstens drei Tage vergangen waren, seit Laurins Zwergenhorde mich verschleppt hatte. Denn hier in der Oberwelt sah alles unverändert aus: Die Gruppe der Findlinge stand noch, und die Sommerluft war ebenso warm und trug den gleichen würzigen Duft nach Latschen wie zu dem Zeitpunkt, als Udo und Frank mich einfach verletzt zurückgelassen hatten. Unwillkürlich wanderte meine Hand zu meinem Kopf, dort, wo ich die Platzwunde gehabt hatte. Nichts war mehr zu spüren, aber wahrscheinlich war die Verletzung nicht so schlimm gewesen. Ich hatte wirklich großes Glück gehabt – im Gegensatz zu Jonathan.
    Vorsichtig schielte ich zu ihm hinüber. Ganze zweihundert Jahre verpasst zu haben, musste ein fürchterlicher Schock für ihn sein. Jonathan blickte starr über die Gipfel, und sein Brustkorb hob sich in einem krampfhaften Atemzug.
    »Alle tot«, sagte er auf einmal leise. »Mein Vater, mein Bruder, unser König … Nur ich bin noch hier.«
    »Ja. Und ich bin darüber ziemlich froh«, antwortete ich, und nun war es an mir, behutsam nach seiner Hand zu greifen. Zuerst schien er es gar nicht zu bemerken, doch dann wandte er langsam den Kopf und sah mich an. Seine Augen blickten traurig, aber er rang sich ein Lächeln ab.
    »Und ich bin froh, dass du das sagst, Emma.« Mit zärtlichem Druck umschloss er meine Hand.
    Ein leichtes Zittern fuhr durch meinen Magen bis hoch in mein Herz. Sicher der Hunger, versuchte ich mir einzureden. Immerhin hatte ich lange nichts gegessen. Ich kannte Jonathan viel zu wenig, um Gefühle für ihn zu entwickeln. Außerdem war er zweihundert Jahre älter als ich. Doch die Wärme, die von seiner Hand ausstrahlte, war mir nicht unangenehm, daher ließ ich meine noch ein bisschen dort, wo sie war. Nur zum Trost, selbstverständlich.
    »Tut mir leid«, sagte ich schließlich leise. Jonathan blickte mich stumm an. »Es ist sicher schlimm für dich zu wissen, dass deine Familie tot ist. Meine Eltern sind gestorben, da war ich noch ganz klein. Ich kann mich nicht daran erinnern, eine Familie zu haben. Aber ich weiß, wie es ist, sich alleine zu fühlen«, erklärte ich.
    Jonathan sah mich an, dann nickte er langsam. »Ich habe mich immer inmitten meiner Familie einsam gefühlt«, gab er nach einer langen Pause zu und strich sanft mit dem Daumen über meinen Handrücken. Es fiel mir schwer, ihm weiterhin konzentriert zuzuhören, denn mein Herz begann schneller zu klopfen, und das Blut rauschte in meinen Ohren.
    »Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt. Und Vater war ein Despot. Ein kleines Vergehen reichte, um ihn in Raserei zu versetzen. Ich weiß nicht, wie oft er mich gezüchtigt hat. Selbst wenn mein älterer Bruder die Schuld an etwas trug – ich musste dafür büßen«, erklärte er und fuhr mit einem spöttischen Lächeln fort: »Daher waren die Prügel und Bosheiten der Zwerge nur eine Fortsetzung der väterlichen Strafen.«
    »Konntest du dich denn nicht wehren? Ich meine …«, fing ich an, bis mir einfiel, dass es damals sicher noch kein Jugendamt, Jugendnotruf-Telefon oder Sonstiges gegeben hatte.
    »Sich gegen seinen Erzeuger aufzulehnen, kommt einer Todsünde gleich. Egal, wie er seine Kinder behandelt«, erklärte Jonathan ernsthaft.
    »Das hat sich ja nun zum Glück geändert«, erwiderte ich. Jonathans Miene verriet Erstaunen, aber auch etwas anderes – Erleichterung? Zufriedenheit?
    Ich musterte ihn verstohlen von der Seite. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er bedauerte es nicht sonderlich, dass sein Vater längst zu Staub

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