Die gestohlene Zeit
bitte«, sagte ich und bemühte mich, mir den Zusatz »lebend, wenn’s geht« zu verkneifen, denn Josef ignorierte gerade eben das Ortsschild und preschte mit aufheulendem Motor und neunzig Sachen in das malerische Städtchen.
Ich war heilfroh, als er in der schmalen Gasse hielt, in der sich die Unterkunft befand, in der wir während unserer Reise wohnten. Zwar wusste ich noch nicht, wie ich Spindler Jonathans Auftauchen erklären sollte, aber das würde sich alles finden. Mir war in dem Moment sogar egal, mit welchem hysterischen Gegacker Claudia und Sabine auf den gutaussehenden Typen reagieren würden, den ich da anschleppte, und dass ich mit Udo und Frank ein dickes Hühnchen zu rupfen hatte: wegen des Goldrings und weil sie mich verletzt am Berg zurückgelassen hatten. Hauptsache, ich konnte bald wieder nach Hause und sah Caro endlich wieder. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit ich mich von meiner Freundin verabschiedet hatte, um zu dieser unseligen Bergtour aufzubrechen.
Mit zitternden Knien stieg ich aus dem » SUV «, und auch Jonathan schwankte und hatte etwas Mühe, sicher auf den Beinen zu stehen.
Trotzdem streckte ich Josef, der extra ausgestiegen war, artig die Hand hin. »Vielen Dank …«, fing ich an, doch da wurden wir von einem Telefonklingeln unterbrochen, das in unserer unmittelbaren Nähe ertönte. Suchend sah ich mich um, wo in der menschenleeren Gasse ein Telefon stand. Jonathan dagegen blickte in den Himmel, offenbar hatte er einen Vogel in Verdacht, dieses Geräusch zu produzieren. Derweil zog Josef ein kleines, flaches Kästchen aus der Brusttasche seines Hemdes.
»Toller Klingelton, was? Nennt sich ›Retro‹«, flüsterte er mir verschwörerisch zu, dann wischte er mit dem Finger auf dem flachen Teil herum. »Hallo, Schätzchen«, flötete er und hielt es ans Ohr. Jonathan warf mir einen fragenden Blick zu, und diesmal musste auch ich passen. Das viereckige Ding war weiß und zeigte einen angebissenen Apfel auf der Rückseite. Es sah ein bisschen albern aus, aber Josef sprach immer noch hinein. War das ein Diktiergerät, oder wollte er uns zum Narren halten?
»Ja, wir sind schon in Bozen. Ich habe zwei Studenten zu ihrer Jugendherberge mitgenommen, aber jetzt komm ich heim. Ja, Schatzilein, ich dich auch! Bussi, ja, ciao-ciao!«
Ich schielte zu Jonathan und sah, wie er sich offenbar krampfhaft darum bemühte, nicht zu grinsen. Nur die Lachfältchen um seine Augen, die sich vertieften, verrieten ihn. Für ihn musste Josefs Getue ein sehr skurriles Erlebnis sein. Kein Wunder, hatte man sich im 18 . Jahrhundert nicht sogar innerhalb der Familie und unter Eheleuten noch gesiezt? Trotzdem war auch ich ratlos, was dieses komische Teil, das Josef in der Hand hatte, darstellen sollte. Er hatte mit jemandem geredet, aber wenn es ein Telefon war – wo waren dann die Schnur, der Hörer und die Wählscheibe?
Anscheinend schielte ich auffallend neugierig zu ihm hin, denn stolz hielt er mir das Ding unter die Nase. Ich erkannte nur viele bunte Kästchen, die auf einer Art Mini-Fernsehbildschirm abgebildet waren. »Das nagelneue Eifon«, sagte Josef mit hörbarem Besitzerstolz. »Größerer Bildschirm und schnellere Internetverbindung als das Vorgängermodell. Und mehr Platz für Äpps.«
Ich nickte mit wissender Miene, obwohl ich nur Bahnhof verstand. Weder war mir klar, was dieses eckige Teil mit einem Ei gemeinsam hatte, noch wusste ich, was Josef mit dem anderen Begriff meinte. Äpfel konnten es ja wohl kaum sein. Oder wollte er damit ausdrücken, dass er dafür nur »einen Apfel und ein Ei« bezahlt hatte?
Das mulmige Gefühl von heute Morgen befiel mich erneut und erinnerte mich an meine Matheklausuren, bei denen alle anderen die Aufgaben verstanden, nur ich nicht. Genauso empfand ich jetzt. Irgendetwas erschien mir merkwürdig, aber ich wusste nicht, was es war – noch nicht.
Mir blieb auch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn Josef drängte auf die Abfahrt, und wir verabschiedeten uns von den Wanderern, wobei ich mich noch einmal artig für alles bedankte. Als Josef sich schon schwungvoll hinters Steuer von seiner PS -Höllenmaschine geworfen hatte, fiel Jonathan noch etwas ein, und er klopfte ans Fenster.
»Eure Schuhe«, rief er und machte Anstalten, die Trekkingsandalen auszuziehen. Josef ließ die Scheibe heruntersurren und winkte ab.
»Weißt du was, Junge? Behalt sie. Aber schmeiß die nicht auch noch irgendeinen Berg runter, okay?« Mit diesen Worten ließ
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