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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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er den Motor aufröhren und schoss mit einem Blitzstart um die Ecke. Das Letzte, was ich durch die offenen Autofenster hörte, war Renates empörter Aufschrei:
    »Josef! Der CO 2 -Ausstoß …«
    Jonathan und ich blickten dem Wagen nach, dann sahen wir uns an. »Nun, das war eine recht eindrucksvolle Einführung in das Jahr 1987 «, kommentierte er trocken. Ich wunderte mich, wie gelassen er den Zeitsprung nahm. Zwar dürfte er sich durch den Aufenthalt bei den Zwergen eigentlich an einige seltsame Dinge gewöhnt haben, trotzdem musste die veränderte Welt doch ein Schock für ihn sein. Immerhin hatte er sich an einem Tag noch im 18 . Jahrhundert befunden, und als er das nächste Mal an die Erdoberfläche kam, schrieb man ein völlig neues Zeitalter. Die Menschen sprachen anders, ganz zu schweigen von der veränderten Mode und den Fortbewegungsmitteln.
    Als ich ihn vorsichtig darauf ansprach, schwieg Jonathan eine Weile, ehe er zugab: »Ich hatte kein schönes Leben, Emma. Mein Vater hat mich nie geliebt. Er gab mir die Schuld an Mutters Tod. Und mein Bruder … Er wollte nicht teilen, verstehst du? Nicht das Essen, nicht die Schlafkammer – und schon gar nicht das spätere Erbe unseres Vaters. Ich bin sicher, mein Verschwinden freute ihn. Aber ich habe überlebt. Nicht nur die dunkle Zeit im Reich der Zwerge, sondern auch meinen despotischen Vater. Und ändern kann ich die Dinge auch nicht mehr. Auch wenn mir noch alles fremd erscheint, kann ich noch einmal von vorne beginnen. Was würde mir es also nützen, zu klagen und zu hadern?«
    Scheinbar war er ein echter Optimist. Ich wollte lieber nicht daran denken, wie er hier zurechtkommen wollte, ohne Ausweis, ohne Job, vielleicht sogar ohne Schulbildung … »Non scholae, sed vitae discimus«, hörte ich im Geiste Spindlers Stimme. »Wir lernen nicht für die Schule, sondern fürs Leben«, dozierte er immer gern, wenn ich ihm erzählt hatte, wie die Schüler in meiner Praktikumsklasse meckerten, wozu sie den ganzen Geschichtskram später noch bräuchten. Bestimmt hatte er eine Idee, wie wir Jonathan helfen könnten.
    »Mein Tutor ist ziemlich nett. Ihm fällt garantiert was ein«, sagte ich überzeugt und winkte Jonathan, mir durch die Tür in die Jugendherberge zu folgen.
    Eine dickliche Frau Mitte fünfzig stand am Empfang, die ich noch nie gesehen hatte. Die Tage davor hatte immer eine junge Studentin mit blondem Pferdeschwanz dort gesessen, die Nase in einen englischen Krimi gesteckt. Vielleicht war das hier ihre Mutter, eine gewisse Ähnlichkeit in den Gesichtszügen war vorhanden.
    »Ist der Kurs des Heinrich-Heine-Gymnasiums hier – oder sind sie zu einer Tour aufgebrochen?«, fragte ich freundlich.
    Die Frau musterte mich irritiert. »Ich glaube, Sie sind falsch. Wir haben momentan nur Klassen zweier Realschulen im Haus«, informierte sie mich.
    »Kann nicht sein«, widersprach ich. »Schauen Sie doch in Ihrem Terminkalender nach.«
    Doch sie schüttelte stur den Kopf. »Wir sind eine Jugendherberge. Für Klassentreffen buchen die Leute normalerweise ein Hotel. Wenn Sie Ihre Mutter suchen, können Sie es in der Pension
Alpenrose
versuchen, da steigen solche Gruppen gerne mal für solche Treffen ab.«
    Wir redeten offenbar komplett aneinander vorbei.
    »Das ist kein Klassentreffen, sondern die Kursfahrt einer zwölften Klasse. Und ich suche nicht meine Mutter, sondern meine Praktikums-Klasse«, erklärte ich langsam und deutlich. Scheinbar war die gute Frau etwas »schwer von Kapee«, wie Caro es gerne mal ausdrückte, wenn jemand mit beiden Füßen voll auf dem Schlauch stand.
    »Ich wiederhole mich gerne: Wir haben keine zwölfte Klasse hier. Weder heute noch gestern. Die nächste Gymnasialklasse, die hier absteigt, kommt im Dezember 2014 zum Skifahren«, gab die Frau Auskunft. Ich lachte ungläubig. »Sie sind so weit vorher ausgebucht?«, fragte ich ungläubig. Ich kannte kein Hotel, das Reservierungen fast dreißig Jahre im Voraus annahm, geschweige denn eine Jugendherberge.
    Sie starrte mich an. Offenbar war sie es nun, die mich für beschränkt hielt. »Sich ein halbes Jahr vorher bei uns anzumelden, ist nichts Ungewöhnliches. Schließlich müssen die Schulen planen«, belehrte sie mich.
    Jetzt war ich vollends verwirrt. Da spürte ich eine leichte Berührung am Arm. »Emma«, flüsterte Jonathan, »sieh doch!« Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger, und mein Blick fiel auf die Uhr, die hinter der Frau an der Wand hing. Sie zeigte 10 : 47

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