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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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musste, genau wie Jonathan. Auch wenn der Kulturschock für mich hoffentlich nicht ganz so groß sein würde.
    Einen Moment gab ich mich noch dem tröstlichen Gefühl hin, geborgen an Jonathans Schulter. Dann fuhr ich mir energisch über die Augen und spritzte mir zwei Handvoll von dem Wasser ins Gesicht, das fröhlich aus dem Brunnen plätscherte. Ich wollte nicht wie ein verheultes Kaninchen aussehen, weiße Haut, rote Augen. Nachdem ich mir mit den Fingern noch notdürftig meine Locken etwas gekämmt hatte, fühlte ich mich einigermaßen fit. Der Schock über die vergangene Zeit hatten jedes Gefühl für Hunger und Durst ausgelöscht, und auch Jonathan schüttelte den Kopf, als ich fragte, ob er etwas essen wollte. Allerdings sehnte ich mich nach drei Tagen im Felsenreich bei einer Horde stinkender Zwerge nach einer heißen Dusche.
    »Zuerst müssen wir in die Stadt, in der ich gewohnt habe«, bestimmte ich. »Zwar wird mich an der Universität niemand mehr kennen, aber immerhin kann man mir dort vielleicht weiterhelfen.«
    »Gut, jedoch werden wir mehrere Tagesreisen brauchen, um dorthin zu kommen«, wandte Jonathan ein. »Schließlich besitzen wir keinen dieser
Ess-ju-vies!
«
    Er hatte ein gutes Gedächtnis! Ich musste lächeln. »Wir trampen«, schlug ich vor. »Bei den Wanderern hat es ja auch funktioniert, und sie haben uns mitgenommen.«
    »Gibt es keine Wegelagerer?«, versicherte Jonathan sich misstrauisch.
    Diesbezüglich konnte ich ihn beruhigen. »Wenn wir zu zweit sind, ist es sicher«, meinte ich.
    »Und falls ein Schurke kommt, werde ich ihn zur Strecke bringen«, versprach Jonathan. Dann seufzte er. »Ein Jammer, dass ich in Laurins Rosengarten meinen Degen verlor …«
    Ich starrte ihn an. »Echt jetzt?«, fragte ich. »Du kannst fechten?«
    »Ich beherrsche Degen und Florett, seit ich ein Kind von acht Jahren war«, erklärte er stolz. »Ich wurde eine Zeitlang sogar am österreichischen Hofe ausgebildet. Mein Vater hatte im Erbfolgekrieg für Österreich und den Kaiser und später unter Maria Theresia gegen Preußen gekämpft«, fügte er hinzu.
    »Wow. Ich bin beeindruckt«, gab ich zu. Bisher hatten die Jungs, die ich kannte, mit Toren beim Fußball geprahlt oder damit, den DJ der Kleinstadtdisko persönlich zu kennen. Einen echten Musketier hatte ich noch nicht getroffen. Allerdings waren die auch schon ausgestorben, dachte man jedenfalls. Nun stand ich mit einem übriggebliebenen Exemplar in einer Gasse von Bozen und durfte zusehen, wie wir aus dem Schlamassel, den uns ein Zwerg eingebrockt hatte, wieder herauskamen.
    Vor allem, da Jonathan einiges nachzuholen hatte, was das moderne Frauenbild anging. Gerade bog ein junges Pärchen um die Ecke. Sie trug einen Minirock, dazu etwas komische Sandalen, die mit ihren Riemen bis über die Knöchel denen der römischen Gladiatoren ähnelten. Dazu ein weites T-Shirt, das eine Schulter frei ließ. Er hatte offenbar heute Morgen zur Hose seines großen Bruders gegriffen, denn der Jeansbund hing ihm bis über die Hüften, dafür wellte sich der Saum der engen Hosenbeine um seine Knöchel. Auf dem Kopf trug er eine Häkelmütze, deren Bund er bis weit über den Haaransatz hochgeschoben hatte, dafür hing sie hinten ziemlich weit über. Irgendwie erinnerte er mich an meine Kindheit und den Auftritt der Schlümpfe in der ZDF -Hitparade mit Dieter Thomas Heck. Meinem Geschmack anno 1987 , als Karottenhosen und schmale Lederkrawatten noch als ultimativ »in« galten, entsprach der Typ eindeutig nicht, aber ich hielt den Mund.
    Nicht so Jonathan. Mit offenem Mund starrte er dem Mädchen hinterher, das zugegebenermaßen ziemlich sexy aussah, auch wenn sie etwas viel Lippenstift und Kajal aufgelegt hatte.
    Als Jonathan sich zu mir umdrehte, wirkte er jedoch nicht, als fände er Gefallen an dem Anblick. »Verzeih, wenn ich mich echauffiere«, fing er an, »aber was dieser Mann als Beinkleid trägt, ist ein Fauxpas. Und die junge Dame an seiner Seite … darf man heutzutage derart skandalös herumlaufen?«
    Wider Willen musste ich kichern. Ich wollte Jonathan nicht kränken, aber er klang so moralinsauer, als würde er die Rolle des Oberlehrers in einem dieser Heinz-Rühmann-Filme aus der Nachkriegszeit spielen. Fehlten nur noch der schwarze Frack und das Monokel.
    Andererseits: Die enge Hose des Jungen, deren Hintern fast in den Kniekehlen hing, wirkte auch in meinen Augen ziemlich seltsam. Und die letzte Frau, die Jonathan vor seinem Ausflug ins Zwergenreich

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