Die gestohlene Zeit
gesehen hatte, trug wahrscheinlich einen bodenlangen Reifrock samt Perücke. Ich blickte zu seinem strafenden Gesichtsausdruck auf.
»Findest du das etwa amüsant?«, fragte er. Ich ließ meinen Blick von seinem nicht gerade sauberen Hemd zu seinen Füßen wandern.
»Wenn ich ehrlich bin, siehst du auch nicht gerade so aus, wie man sich einen modisch gekleideten Mann im Jahr 2014 vorstellt«, gab ich zu.
Jonathan schnaubte, aber der Fältchenkranz um seine Augen verriet ihn. »Soll ich dem Jungen nachgehen und ihn bitten, mir seine Kappe und eine von seinen komischen Hosen zu borgen?«, fragte er ernsthaft.
Ich sah ihn an, und dann prusteten wir gleichzeitig los. Unser Lachen hallte durch das verschlafene Gässchen und verscheuchte für einen Moment die düsteren Schatten, die in den Winkeln unseres Bewusstseins lauerten, jederzeit bereit, wieder hervorzukriechen, sobald wir über unsere Zukunft nachdenken mussten.
Schließlich verstummten wir und sahen uns an. In der Felsenhöhle hatte Jonathan gesagt, er fände mich schön, wenn ich lachte. Ob er das ernst gemeint hatte? Er hielt meinen Blick fest, fast so, als wüsste er, was ich dachte. Ich versank im Kornblumenfeld seiner Augen und wollte am liebsten nicht mehr auftauchen. Für einen Moment gelang es mir, die verflossenen Jahre und meinen Kummer darüber zu vergessen. Das Einzige, was zählte, war Jonathan, der bei mir war. Irgendwo begann eine Kirchenglocke die Mittagsstunde zu schlagen. Der Wind wehte die volltönenden Glockenschläge zu uns herüber.
»Emma«, sagte Jonathan, da schlug die Uhr gerade zum dritten Mal. Wenn er meinen Namen aussprach, klang seine Stimme, wie Laurins Rosen dufteten, dunkel und samtig. Beim fünften Glockenton streckte er die Hand aus und legte sie zärtlich auf meine Wange. Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Die Wärme seiner Finger brachte mein ganzes Gesicht zum Glühen. Gerade als ich meine Hand auf seine legte, tönte die Uhr ein letztes Mal: zwölf.
Da verzog sich Jonathans Gesicht in einem Anflug von Schmerz, er zog die Hand zurück und krümmte sich kurz, als hätte er Magenkrämpfe. »Jonathan, tut dir was weh?«, fragte ich erschrocken. Er hob abwehrend die Hand.
»Es ist nichts …«, fing er an, doch beim letzten Wort stöhnte er auf. Er ging in die Knie und ballte die Hände zu Fäusten.
»Was ist denn?«, rief ich, nun ernsthaft besorgt. Ächzend fasste er sich an die linke Schulter und zerrte an seinem Hemd, das etwas verrutschte. Der rote Streifen, der von Laurins Fluch zurückgeblieben war, leuchtete nun hellrot auf seiner Haut und schien förmlich zu lodern.
»Hier … Schmerzen … unerträglich«, stieß er abgehackt hervor. Er zog die Hand zurück, und zu meiner Verblüffung steckte plötzlich zwischen seinen Fingern eine schwarze Feder.
»Wo kommt die denn her?«, rief ich. Suchend blickte ich in den Himmel, aber weit und breit war kein Vogel zu sehen, nicht einmal eine der Tauben, die sonst die Städte bevölkerten und überall nach Krumen suchten. Als mein Blick zurückkehrte, lagen nur noch Jonathans Hemd, seine Hose und Josefs Trekkingsandalen auf dem Boden. Und daneben, völlig unversehrt und in voller Blüte: Laurins Rose, die er unter seinem Hemd verborgen gehabt hatte.
Jonathan selbst war verschwunden. Stattdessen hockte an der Stelle, an der er eben noch gekniet hatte, ein Rabe mit schwarzseidenem Gefieder. Nur an einem Flügel, dort, wo sich auf Jonathans Schulter das Mal befunden hatte, war eine Feder weiß.
Ich starrte den Vogel an, und mein Verstand weigerte sich eine geschlagene Minute lang zu begreifen, was ich sah. Die Zeit schien gefroren zu sein, ähnlich dem Moment, in dem man eine kostbare Porzellanvase fallen lässt und sie noch einen langen Augenblick in der Luft zu schweben scheint, ehe sie auf dem Boden zerschellt.
»Jonathan?«, fragte ich schließlich leise. Der Vogel hüpfte auf mich zu und sah mich mit dunkelglänzenden Knopfaugen an. Er gab keinen Laut von sich, trotzdem war es, als würden sich seine Gefühle auf mich übertragen, und ich spürte eine Art Ungläubigkeit, die sich langsam zum Grauen auswuchs, in einem fremden Körper eingesperrt zu sein.
»Hilf mir«, schien der Rabe mir zuzurufen, doch aus seinem Schnabel kam nur ein heiseres Krächzen.
»Jonathan«, wiederholte ich, diesmal lauter. Nun hörte ich auch die Angst in meiner eigenen Stimme.
Mein Blick fiel auf die Rose, die uns schon einmal gerettet hatte. Erleichtert hob ich sie auf. »Halt
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