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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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 Uhr. Eigentlich nichts Besonderes, hätte nicht darunter das Datum gestanden. Es lautete: 29 .  07 .  2014 .

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    Kapitel 9
    I ch hatte keine Ahnung, wie ich aus der Jugendherberge gekommen war. Die Minuten, in denen Jonathan mich am Arm genommen und ins Freie geführt hatte, waren aus meinem Gedächtnis gelöscht. In meinem Kopf herrschte weißes Rauschen, wirbelte wie Schneegestöber vor meinen Augen und ließ mich wie blind neben ihm durch die kleine Gasse stolpern. Erst als ich etwas Kaltes, Nasses im Gesicht spürte, schreckte ich aus meiner Trance. Jonathan hatte mich zu einem Brunnen geführt und spritzte mir gerade Wasser ins Gesicht.
    »Lass das«, rief ich empört und wehrte den nächsten Schwall ab, indem ich zur Seite sprang.
    »Ich fürchtete nur, du würdest dich nicht mehr von deinem Schrecken erholen«, rechtfertigte er sich.
    Bei seinen Worten war mit einem Schlag alles wieder da: das Datum auf der Uhr und die blitzartige Erkenntnis, dass dort unten in Laurins Reich nicht nur für Jonathan die Zeit langsamer abgelaufen war als in der Oberwelt, sondern auch für mich. Ich hatte bei Jonathan einen Zauber Laurins vermutet und mich sicher gefühlt. Zu sicher. Nun erkannte ich meinen schrecklichen Irrtum. In den drei Tagen, die ich in der Gewalt des Zwergenkönigs tief im Berg verbracht hatte, waren siebenundzwanzig Jahre vergangen, ehe ich an einem Sommertag wieder in meine Welt katapultiert wurde.
    Trotzdem war ich genauso wenig wie Jonathan gealtert, sondern einundzwanzig Jahre alt geblieben, während Caro … Ich wollte den Gedanken nicht zu Ende bringen, aber der Taschenrechner in meinem Kopf lief unbarmherzig weiter und addierte die Jahre zu Caros damaligem Alter.
    Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle hoch, als mir klarwurde, dass meine beste Freundin inzwischen achtundvierzig Jahre alt war.
    Wir würden nicht mehr zusammen in eine WG ziehen, denn Caro war längst keine Studentin mehr. Bestimmt hatte sie geheiratet und trug einen anderen Namen. Vielleicht hatte sie Kinder bekommen und war fortgezogen. Wahrscheinlich würde ich sie nie wiedersehen.
    Ich sank auf den steinernen Rand des Brunnens, und jetzt flossen meine Tränen ungehindert. Ich weinte um all die Jahre, die vergangen waren, und um die Freundschaft zu dem einzigen Menschen, von dem ich je geglaubt hatte, nichts würde uns auseinanderbringen können. Doch was dem strengsten Internatsbetreuer nie gelungen war – das hatte der gierige, erbarmungslose Zwergenkönig nun geschafft: Caro und ich hatten uns verloren. Sie hatte sich inzwischen seit fast dreißig Jahren ihr eigenes Leben aufgebaut – ohne mich. Natürlich musste sie mich für tot halten, abgestürzt in den Bergen und seit langem in einem steinernen Grab unter Geröll liegend. Ich existierte für niemanden mehr.
    Eine tiefe Hoffnungslosigkeit breitete sich in meinem Herzen aus und färbte meine Gedanken tintenschwarz. In diesem Moment fühlte ich mich nicht wie einundzwanzig und nicht einmal wie Ende vierzig, sondern uralt und gebrechlich, als hätte ich hundert Menschenjahre in der alterslosen Dunkelheit von Laurins Berg verbracht.
    Auf einmal spürte ich Jonathans Arm, der sich um meine Schultern legte und mich sanft an sich zog. »Emma«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Alles, was dir vertraut war, ist nun anders. Aber du musst keine Angst haben. Noch vor kurzem hast du versprochen, für mich da zu sein. Nun verspreche ich dir dasselbe.«
    Einen Moment zögerte ich, doch dann lehnte ich mich an ihn und spürte das warme, tröstliche Gewicht seines Arms. Genau wie in der Felsenhöhle strich Jonathan mir leicht übers Haar. »Wir schaffen das. Wir müssen es nur wollen«, murmelte er.
    Seine Zuversicht war ein Hoffnungsschimmer inmitten meiner Angst und der Trauer um all die Zeit, die Laurin mir gestohlen hatte, und das Leben, das ich hätte haben können, wenn er mich nicht festgehalten hätte: ein paar wenige Tage in seiner Welt, ein Vierteljahrhundert in meiner.
    Doch Jonathan hatte recht. Auch wenn es mir das Herz in der Mitte auseinanderriss, weil meine Gegenwart in Wirklichkeit längst Vergangenheit war, mussten wir versuchen, uns im Jahr 2014 zurechtzufinden. Nun war mir auch klar, weshalb ich vorhin beim Anblick von Josefs Wagen und diesem komischen Gerät, in das er hineingesprochen hatte, so ein merkwürdiges Gefühl gehabt hatte. Garantiert waren in den vergangenen Jahrzehnten einige Dinge passiert, mit denen ich erst klarkommen

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