Die gestohlene Zeit
wollte.
Kein schlechtes Geschäft, fand Udo, zumal zwischen ihm und Claudia schon länger nichts mehr lief. »Du bist zu oft weg. Du müsstest mal ein paar Pfund abnehmen. Nie hörst du mir zu, wenn ich dir was erzähle. Du interessierst dich nicht mehr für mich«, lauteten ihre Klagen und Vorwürfe, die wie eine Schallplatte mit Sprung in der Dauerrotation liefen und bei denen Udo die Lust sowieso verging.
Statt ihr all das jedoch an den Kopf zu werfen, lächelte Udo trotz noch ungeputzter Zähne sein verbindliches Gerichtsprozess-Lächeln. »Aber nein, Schatz, natürlich halte ich dich nicht für bescheuert«, log er. »Dass du so was überhaupt denkst«, fügte er pro forma noch hinzu und bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen, sonst würde er noch ein Schleudertrauma bekommen.
»Paaapa!«, ertönte es in dem Augenblick zweistimmig. Karla und Linus, seine sieben- und zehnjährigen Sprösslinge, kamen ins Badezimmer gelaufen, und Linus, ein Ebenbild von Udo in Miniaturformat, baute sich vor seinem Vater auf.
»Du hast versprochen, ich krieg die neue Spielkonsole geschenkt«, maulte er und starrte Udo vorwurfsvoll aus seinen leicht hervortretenden Augen an. Udo lag schon ein »Dicke Kinder kriegen höchstens eine Nulldiät geschenkt« auf der Zunge, bis ihm einfiel, wie
er
in Linus’ Alter ausgesehen hatte. Nämlich genauso.
»Wir haben doch ausgemacht, dass es die Konsole erst gibt, wenn du mal wieder eine Zwei minus in Mathe nach Hause bringst«, argumentierte Udo. »Und? Welche Note hattest du in der letzten Schulaufgabe?« Linus ließ den Kopf hängen und hatte mit seinen dicken Pausbacken frappierende Ähnlichkeit mit einem depressiven Hamster.
»Ich hab heute Abend Ballettaufführung. Kommst du?«, piepste Karla, die bisher still im Hintergrund gestanden hatte, wie fast immer. Für ihre sieben Jahre war sie ziemlich klein und schmächtig. Meistens verhielt sie sich still und schüchtern. Weder hatte sie etwas von Udos kräftigem Körperbau noch von Claudias lauter, bestimmender Art, und Udo ertappte sich manchmal bei dem Gedanken, ob Karla überhaupt seine leibliche Tochter war. Er mochte sie ganz gern, aber das schien nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Die Kleine hielt immer eine gewisse Distanz, beobachtete ihn nur kritisch mit großen, ernsten Augen. Er fühlte sich dann durchschaut und mied daher seine kleine Tochter unbewusst.
»Hasilein, Papa kann nicht zum Ballett kommen. Er muss nämlich …«
»… arbeiten«, ergänzte Claudia gehässig. Udo warf ihr einen genervten Blick zu.
»Ich habe was mit Frank zu besprechen, zufrieden?«, bellte er.
Claudia presste ihre kunstvoll aufgespritzten Lippen zusammen, die sie bei so einer blonden Fernsehtante gesehen hatte und sofort auch haben wollte. Gleich am nächsten Tag war sie zu ihrem Zahnarzt gerannt. Der kümmerte sich nach einem Wochenend-Seminar, das wahrscheinlich unter dem Motto »Botox – leicht gespritzt« gelaufen war, bei Bedarf auch um das verdrehte Schönheitsideal seiner Patientinnen.
»Frank!« Claudia spuckte den Namen förmlich aus. »Hat der Loser wieder Probleme? Was ist es diesmal, Alk am Steuer, oder hat er mal wieder einen Zahlungstermin bei seinem Vermieter vermasselt?«
»Ach, Claudia, nun sei nicht so hart zu ihm. Er hat es eben nicht leicht im Leben«, leierte Udo seine Standardantwort herunter. Doch seine Frau fiel nicht mehr darauf herein. Mit einem abfälligen Schnauben drehte sie sich um.
»Kommt, ihr beiden, zum Frühstück gibt’s Schoko-Crunchies«, flötete sie. Linus stimmte ein Indianergeheul an und rannte in die chromglänzende Dreißigtausend-Euro-Küche voraus, Karla folgte langsamer.
Prima, dachte Udo seufzend, zwar würde Claudia bei Linus die Anzeige der Digitalwaage wieder um ein paar hundert Gramm weiter nach oben treiben, aber wenigstens hatte er seine Ruhe.
Udo zog seinen flauschigen Armani-Bademantel an und schlich in sein Arbeitszimmer. Sorgfältig drehte er von innen den Schlüssel zweimal um, ehe er den Raum durchquerte und vor einem Gemälde stehen blieb, auf dem ein Maler ihn in Anwaltsrobe verewigt hatte. In Öl und mit Goldrahmen drum herum. Claudia fand das Bild »dekadent und geschmacklos«, doch Udo liebte es, seinen Erfolg ständig vor Augen zu haben. Zudem konnte er sicher sein, dass Claudia keinen Verdacht schöpfen würde, da sie geschworen hatte, sich dieser Scheußlichkeit, wie sie sein Porträt nannte, »nicht auf zwei Meter zu nähern«.
Behutsam nahm er
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