Die gestohlene Zeit
das Bild von der Wand. Nur ein geschultes Auge konnte die feinen Rillen sehen, die sich beinahe unsichtbar ins Muster der Tapete einfügten. Udo drückte einen verborgenen Knopf, und ein schmales Rechteck öffnete sich und gab den Blick auf eine unscheinbare, kleine Metalltür frei, an deren Seite sich eine blinkende Schalttafel mit Zahlenfeldern befand – ein Safe. Udo tippte in rascher Reihenfolge sechs Ziffern ein. Ein grünes Licht blinkte eifrig, und Udo öffnete die Tür. In dem schmalen Hohlraum des Mini-Tresors befanden sich weder Geldbündel noch irgendwelche Wertpapiere oder Goldbarren. Nur ein schmaler Ring mit einem grün funkelnden Stein lag auf einem schwarzen Samtkissen. Ein Einbrecher hätte vielleicht ob der geringen Ausbeute verächtlich das Gesicht verzogen.
Welch großen Schatz Udo da in Wahrheit beherbergte, wusste niemand außer ihm – und Frank, doch der hatte keine Chance, an die Kostbarkeit heranzukommen, dafür hatte Udo gesorgt. Behutsam nahm er den Ring heraus und drehte ihn einen Augenblick andächtig in seinen feisten Wohlstandsfingern. Der Schmuck war entweder für schmale oder ziemlich kleine Finger gearbeitet, und so konnte Udo ihn nicht weiter als bis über das erste Glied seines kleinen Fingers schieben. Doch es reichte, um ihm wieder das vertraute Gefühl der Macht zu geben, wie immer, wenn er den Schmuck in der Hand hielt.
Der Ring war ein Wunder, hatte er doch aus einem schlechten Schüler einen Cum-laude-Juristen gemacht, einen Versager in einen Sieger verwandelt. Udo würde seinen wertvollsten Besitz bis aufs Blut verteidigen, sollte jemand versuchen, ihm den Ring wegzunehmen.
Aber wer sollte schon auf die Idee kommen? Frank war zu feige und Emma Wiltenberg tot. »Und du bist schuld«, zischte ihm eine Stimme zu, die aus Udos Innerem kam und sich manchmal zu Wort meldete, wenn er es am wenigsten brauchen konnte. »Du hast ihr den Ring aus der Hand gerissen und sie geschubst. Erinnerst du dich an das Blut, Udo? Das Blut an ihrem Hinterkopf? Das warst du, und wegen dir ist Emma nie gefunden worden!«
Heftig schüttelte er den Kopf. »Nein«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, »und selbst wenn, erfüllt das höchstens den Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge. Und die Tat ist längst verjährt.«
Doch die Stimme war hartnäckig. »Mörder«, zischte sie gehässig in Udos Kopf. Er umklammerte den Ring und drückte ihn gegen seine Stirn. Das kühle Metall fühlte sich angenehm auf seiner verschwitzten Haut an und brachte die innere Stimme zum Schweigen. Udo atmete tief durch. Die gewohnte Selbstsicherheit kehrte zu ihm zurück, und sanft, fast zärtlich legte er den Ring wieder auf sein Samtkissen. »Du bist mein Ein und Alles«, wisperte er dem Schmuckstück zu. »Ohne dich bin ich nichts!«
Nur er wusste, dass dies keine leeren Worte waren, sondern die Wahrheit.
Als er aus seinem Arbeitszimmer auf den Flur trat, empfingen ihn die Kinder mit aufgeregtem Geplapper. Es dauerte eine Weile, bis Udo aus ihren Worten schlau wurde, weil Linus und Karla sich gegenseitig überschrien und Claudia dazwischen auf ihre Migräne hinwies und vergeblich um Ruhe bat.
»Kinder!«, donnerte Udo, und beide verstummten, als hätte man zwei Lautsprecher abgedreht. »Was ist hier los?«, fragte er an Claudia gewandt.
»Karla hat eine Katze vor der Tür gefunden und kurzerhand mit reingebracht«, leierte sie in ihrem üblichen, jammernden Tonfall. »Und jetzt will sie das Vieh nicht mehr hergeben!«
»Die Katze war ganz arm und allein«, piepste die Kleine. »Aber jetzt kümmere ich mich um sie!«
»Ich hab sie aber zuerst gesehen«, quengelte Linus.
»Gar nicht!«
»Wohl!«
»Gar nicht!!«
»Wohl!!«
»Kinder!«, schrie Udo erneut. »Hört auf zu streiten! Wo ist das Vieh überhaupt?«
»Da!«, rief Karla triumphierend, denn in diesem Moment steckte die Katze ihren rot-weiß gescheckten Kopf aus der Küchentür. Udo glotzte sie an, und die Katze starrte zurück. Fast kam es ihm vor, als läge auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Verwunderung – oder war es Verachtung? Gleich darauf rief er sich zur Ordnung. Wie um alles in der Welt könnte eine Katze irgendeinen Gesichtsausdruck haben? Trotzdem fühlte er sich unter dem eindringlichen Blick unwohl.
»Das Biest bleibt auf keinen Fall im Haus! Ich muss jetzt zu einem Klienten, und heute Abend bin ich mit Frank im
Ambrosia
verabredet. Wenn ich nach Hause komme, ist die Bude katzenfrei, klar?«
Ohne auf Linus’
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