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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Protestgeschrei und Karlas Jammergeheul einzugehen, stapfte Udo ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Dass die Katze ihm nachsah, bemerkte er nicht, sonst hätte er gesehen, dass sie ihm, sehr menschlich, die Zunge herausstreckte.
    ***
     
    Himmel, war Udo fett geworden!, war mein erster Gedanke, nachdem mein ehemaliger Schüler in einem weinroten Edel-Bademantel auf den Flur hinausgetreten war, in dem er wie ein überdimensionaler Weihnachtsmann wirkte. Erst auf den zweiten Blick sah ich die Spuren von Alter und offenbar auch einigen Gläsern zu viel, die sich in sein Gesicht eingegraben und es geschafft hatten, ihn gleichzeitig aufgedunsen und verbittert aussehen zu lassen. Seine Wangen hingen, dafür verschwanden seine Augen beinahe zwischen den Hängelidern, was ihm einen noch tückischeren Ausdruck als früher verlieh. Offenbar hatte er seinen Hals inzwischen völlig eingebüßt, denn sein massiger Schädel schien direkt aus seinen Schultern zu wachsen. Er glich eher einem Metzger, der sein eigener, bester Kunde war, und weniger einem erfolgreichen Anwalt.
    Mein Erschrecken über Claudias Anblick war nicht minder stark gewesen. Sie war in der zwölften Klasse mit ihren langen blonden Haaren und der Stupsnase ziemlich hübsch gewesen, auch wenn ihr Mund zu schmal war und ihre Augen einen Hauch zu eng standen, um sie als »schön« zu bezeichnen. Heute jedoch sah sie aus wie eine Mischung aus Barbie und Michael Jackson – nach seinen Schönheits-OPs. Ihre Nase war irgendwie schmäler geworden, dafür hatten ihre Lippen an Volumen zugelegt und ähnelten einem kleinen Schlauchboot, das in Claudias Gesicht ankerte. Mit merkwürdig aufgerissenen Augen, die ihr einen künstlich-erstaunten Ausdruck verliehen, musterte sie die Szenerie. Der dicke Junge – unverkennbar Udos Sohn – schubste gerade seine Schwester, die jünger und um einiges dünner war. Überhaupt schien die Kleine die einzige halbwegs sympathische Person in dieser ganzen Familie zu sein. Nachdem ich das Haus gefunden hatte – zum Glück kannte ich die Stadt aus meiner Internatszeit noch wie meine Westentasche –, hatte Karla sofort auf mein klägliches Miauen hin die Tür geöffnet und mich ins Haus gelassen. Dabei hatte sie weder versucht, mich mit Gewalt ins Innere zu zerren, noch wollte sie mich unbedingt auf den Arm nehmen.
    Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, in dessen Augen ein bösartiges Glitzern trat, als er mich jetzt ansah. Seinen hartnäckigen Versuchen, mir ein Miauen zu entlocken, indem er an meinem Ohr zog und anschließend versuchte, mich im Nacken zu packen, konnte ich erst nach einem energischen Biss in seine dicken Wurstfinger ein Ende bereiten. Die Konsequenz war ein hysterischer Schreianfall, was den inzwischen angekleideten Udo zu den freundlichen Abschiedsworten veranlasste: »Ich hab’s doch gesagt, das Drecksvieh soll verschwinden.«
    Nichts lieber als das, dachte ich, aber zuerst wollte ich herausfinden, ob er Laurins Ring hier in seinem Haus versteckt hatte, und wenn ja, wo. Daher wartete ich, bis die schwere Haustür hinter Udo zugefallen war, um mich dann an Karlas Beine zu schmiegen, wobei ich versuchte, möglichst niedlich dreinzuschauen.
    »Schau mal, Mama! Wie süß!«, quietschte Karla prompt. »Die Katze kann mich gut leiden!«
    »Ja, mein Schatz, das mag ja sein, aber Papa mag die Katze nicht! Du hast doch gehört, was er gesagt hat – er will keine Tiere im Haus haben. Schon gar keinen
Streuner
«, sagte Claudia und warf mir einen Blick zu, den sie bei der Kursfahrt schon auf Lager gehabt hatte, weil sie von ihrer Mutter offenbar extra dafür komplett neu eingekleidet worden war, während ich in meinen treuen No-Name-Klamotten herumlief. »Ich habe reiche Eltern, die mir massenhaft Taschengeld zustecken«, sagte dieser Blick, »und du nicht!«
    Damals hatte ich Claudia – obwohl ich die Betreuerin und damit älter und vernünftiger als sie war – kurz die Pest an den Hals gewünscht. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte sich mein Wunsch erfüllt, denn die Ehe mit Udo schien alles andere als glücklich. Die monströse Villa mit den zwei weißen Marmorsäulen vor dem Eingang wirkte mit ihrem riesigen, gefliesten Flur und einer weißen Wendeltreppe, die ins Obergeschoss führte, genauso kalt und steril wie die Beziehung der beiden.
    Karla war bei den Worten ihrer Mutter in Tränen ausgebrochen. »Aber, ich ha-hab mir doch immer eine Ka-hatze gewünscht«, stieß sie abgehackt zwischen zwei Schluchzern

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