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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Ungeziefer«, sagte er belehrend.
    Wenn Katzen grinsen könnten, dachte ich. Die damaligen Ansichten erschienen mir heute geradezu albern. Allerdings hatte ich weniger Interesse an der damaligen Hygiene, sondern mich interessierte eher der Umgang zwischen Männern und Frauen. Vor allem, was Jonathan betraf. Konzentriert starrte ich ihn an, und eine leichte Röte überzog sein Gesicht.
    »Hat man dir schon einmal gesagt, wie naseweis du bist?«, fragte er mit gespielter Strenge. Zur Antwort gab ich ihm einen spielerischen Katzenpfotenhieb mit eingezogenen Krallen. Er schüttelte den Kopf und musste grinsen, gleich darauf verdüsterte sich aber sein Gesicht.
    »Das Wort ›Liebe‹ war bei meinem Vater verpönt. Die meisten Ehen in unserem Stand wurden aus gesellschaftlichen Gründen, aus Vernunft oder wegen einer lohnenden geschäftlichen Verbindung geschlossen. Aber nie aus Liebe. Die Eltern bestimmten, wem man zugeführt wurde. Widerworte gegen Vater oder Mutter waren ausgeschlossen, die Söhne und Töchter hatten sich zu fügen.« Er verstummte kurz und presste die Lippen zusammen. Seine blauen Augen hatten sich verdunkelt, wie der Himmel, wenn plötzlich schwarze Gewitterwolken aufzogen.
    »Wilhelmine?«, übermittelte ich ihm meine Frage, und Jonathan nickte grimmig. »Sie wurde mir auf einem Ball vorgestellt, den mein Vater ausrichtete. Ich verabscheute diesen ganzen Pomp. All die Leute, deren schweres Parfüm über dem überhitzten Ballsaal hing und sich vermischte, die gepuderte Perücke, die ich tragen musste … Und dann dieses grobschlächtige Geschöpf, das am Arm ihrer Mutter auf mich zukam. Es war grauenvoll. Sie war mir auf den ersten Blick zuwider. Die Schönheitspflästerchen sahen bei ihr aus wie Warzen, und ihre Stimme ähnelte einem knarrenden Fensterladen. Trotzdem habe ich mich redlich bemüht, Konversation zu machen, aber sie war dümmer als unser ältester Kutschgaul. Es brauchte meine ganze Contenance, die geforderten Tänze mit ihr durchzustehen.«
    Sein Blick war düster in die Ferne gerichtet, und ich dachte schon, er würde nicht mehr weitersprechen, doch da stieß er unvermittelt hervor: »Ich hätte diese Frau nicht geheiratet, nicht in hundert Jahren!«
    Daraus waren ja nun zweihundert geworden, schoss mir unwillkürlich durch den Kopf. Jonathan musste auch diesen Gedanken von mir aufgefangen haben, denn er lächelte.
    »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal einem Mädchen wie dir zu begegnen, das gleichzeitig so zart und so mutig ist, Emma«, sagte er, und mein Katzenherz begann sehr menschlich zu flattern. Weil ich ja nicht sprechen konnte, legte ich ihm nur sanft die Pfote auf die Wange und sah mit meinen grünen Augen tief in das Blau der seinen.
    Wenige Minuten später lag ich eingekuschelt in Jonathans Arm und hörte gleich darauf seinen gleichmäßigen Atem. Mein letzter Gedanke, ehe auch ich endlich einschlief, war: Eine Katze zu sein, hatte durchaus Vorteile. Denn in Menschengestalt hätten wir uns wahrscheinlich beide nicht getraut, so eng nebeneinander einzuschlafen. Und dieser Gedanke entlockte mir ein leises Schnurren.
     
    Das erste rosablaue Licht der Morgendämmerung, das durch das Fenster in Caros Gästezimmer fiel, weckte mich. Ich schlug die Augen auf und brauchte einen Augenblick, bis ich wieder wusste, wo ich mich befand. Hastig blickte ich an mir herab, und mein Herz sank: Ich sah immer noch Pfoten statt Händen, was bedeutete, dass ich noch weiter als Katze würde leben müssen. Immerhin kam das unseren Plänen zugute, Udo auszuspionieren, dachte ich und versuchte, die Angst zu verdrängen, ein Leben lang auf vier Beinen und mit Fell bedeckt herumlaufen zu müssen.
    Um Jonathan nicht zu wecken, wand ich mich behutsam aus seinem Arm und sprang leichtfüßig auf den Boden. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte sechs Uhr morgens. Ich war verwundert, wie wach ich mich fühlte. Bisher war ich ein typischer Morgenmuffel gewesen, was mir vor allem während meines Praktikums in der Schule oft Schwierigkeiten eingebrockt hatte, da ich vor neun Uhr morgens nicht wirklich denkfähig gewesen war.
    Offenbar hatte die Verwandlung in eine Katze auch meine Schläfrigkeit weggezaubert. Nicht einmal nach einer starken Tasse Kaffee gelüstete es mir, eher nach einem Schälchen Milch. Trotzdem machte ich noch einen Versuch, den Fluch zu lösen, als mein Blick auf das Tischchen im Gästezimmer fiel, auf dem in einem Wasserglas Laurins Rose stand, immer noch in voller Blüte. Doch

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