Die gestohlene Zeit
auch nachdem ich sie zweimal mit der Pfote berührt hatte, geschah nichts. Ich war und blieb ein Tier.
Resigniert schlüpfte ich aus dem Zimmer und auf den Flur hinaus. Dann aber fiel mir Lilly ein. Wie sollten wir ihr erklären, was passiert war? Sie tat zwar immer cool und überlegen, aber würde sie es nicht doch ängstigen, wenn sie feststellte, dass nach der ganzen Zwergengeschichte und der Verwandlung von Jonathan in einen Raben und wieder zurück nun auch noch ich von einem Zauberfluch betroffen war?
Ratlos schlenderte ich ins Wohnzimmer und setzte mich auf den weichen Teppich, um nachzudenken. Besser, wir verließen das Haus, ehe Lilly aufwachte. Trotzdem mussten wir ihr eine Nachricht hinterlassen, damit sie nicht am Ende auf eigene Faust nach uns suchte. Neugierig, wie Lilly war, brachte sie es fertig, bei Udo aufzutauchen. Schließlich wusste sie ja, dass wir durch ihn Laurins Ring wiederfinden wollten.
Gerade überlegte ich, ob ich es wohl schaffen könnte, Jonathan zu wecken und ihm gedanklich zu übermitteln, Lilly einen Zettel zu schreiben, da fiel mir seine Herkunft ein. Im 18 . Jahrhundert hatte man doch sicher anders geschrieben als heute. Lilly würde also Jonathans Schrift vermutlich gar nicht entziffern können. Also musste ich doch alleine zu Udos Haus gehen und Jonathan vorher per Gedankenübertragung bitten, Lilly mein Verschwinden irgendwie zu erklären. Am besten, wir taten, als ob ich etwas mit Spindler zu besprechen hätte. Mit diesem Plan flitzte ich zurück ins Gästezimmer. Es war Zeit, Jonathan zu wecken und mich ein paar Stunden von ihm zu verabschieden.
***
Udo stolperte mit schlafverquollenen Augen ins Bad. Zum Glück war Samstag, und er musste nicht in die Kanzlei. Der letzte Wodka gestern war wohl schlecht gewesen, dachte Udo und grinste matt über seinen eigenen Witz. Der Humor verging ihm jedoch schnell, denn seine Frau baute sich vor ihm auf und musterte ihn von oben bis unten. »Schön, dass du heute Nacht doch noch nach Hause gekommen bist – oder soll ich lieber sagen: heute Morgen?«
Udo seufzte. Er hasste es, wenn Claudia versuchte, sarkastisch zu sein. In Wirklichkeit bezweifelte er, ob sie das Wort überhaupt richtig schreiben konnte. Nachdem ihnen vor fast dreißig Jahren ihre Abiturzeugnisse ausgehändigt worden waren, hatte Claudia nicht mehr viel für ihre Bildung getan, außer sich die Namen der neuesten Kosmetikmarken zu merken. Warum sollte sie sich auch um andere Dinge kümmern, sie war ja mit einem erfolgreichen Anwalt verheiratet, der jeden Monat seine Zwanzig- bis Dreißigtausend nach Hause brachte, dachte Udo. Nun war
er
es, der sarkastisch wurde.
»Claudia«, sagte er und bemühte sich um den Tonfall, in dem er mit seinen Mandanten zu sprechen pflegte, die partout nicht einsehen wollten, warum der Besitz von Drogen illegal sein sollte oder dass man Frauen nicht öffentlich verprügelte, auch wenn man ihr Zuhälter war.
»Claudia«, wiederholte er, »ich war in der Kanzlei. Ich arbeite, um für dich und die Kinder Geld zu verdienen, kommt dir das irgendwie bekannt vor?«
»Pah«, schleuderte sie ihm verächtlich entgegen und schaffte es trotz mehrerer Botox-Sitzungen, ihrem Gesicht einen verächtlichen Ausdruck zu verleihen, »›arbeiten‹ nennst du das? Du treibst dich mit irgendwelchen Flittchen in Bars herum und kommst mir mit so einer dämlichen Ausrede? Hältst du mich für bescheuert?«
»Ja«, hätte er am liebsten gebrüllt, »das tue ich!« Aber er schwieg, obwohl er sich heimlich fragte, was er wohl sonst von einer Frau halten sollte, die den Sinn des Lebens ausschließlich im Lesen von Klatschzeitschriften und dem Ansehen von TV -Soaps sah und für die ein zweitausend Euro teurer Shoppingausflug besser war als Sex.
Dass er sich nicht längst hatte scheiden lassen, lag nur an der Liebe zu seinen Kindern, das redete er sich jedenfalls ein. Und weil er seinen guten Ruf nicht verlieren wollte. Außerdem war eine Trennung ja auch nicht nötig, denn dank einiger seiner Klienten hatte Udo meistens eine reichliche Auswahl an außerehelichen Vergnügungen. Vor allem René, der Besitzer vom
La Scala,
schleuste immer neue, hübsche Mädchen in seinen Laden. Udos Aufgabe war es, die nötigen Papiere zu beschaffen und dafür zu sorgen, dass die Polizei fernblieb und Renés Etablissement nicht nach illegalen Einwanderinnen filzte. Dafür durfte Udo sich im
Scala
aussuchen, mit welchem der Mädchen er ein paar nette Stunden verbringen
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