Die gestohlene Zeit
waren, diesen zu öffnen, denn seitlich befand sich ein elektronisches Tastenfeld mit Ziffern von null bis neun. Ich hatte so etwas 1987 bei Tastentelefonen und Fernbedienungen schon gesehen, und es brauchte nicht viel Überlegung, um zu wissen, dass ein mehrstelliger Code für das Öffnen der Stahltür nötig sein würde. »Verdammt«, wollte ich fluchen, doch nur ein Fauchen drang aus meiner Katzenkehle. Nun war ich so dicht vorm Ziel und kam nicht weiter. Denn ich war mir ziemlich sicher, soeben das Versteck für Laurins Ring entdeckt zu haben. Eine derart perfekte Tarnung dachte sich nur jemand aus, der etwas äußerst Wertvolles vor fremden Blicken schützen wollte. Zum Beispiel einen magischen Ring. Die Erkenntnis nützte mir nur leider wenig, denn zwischen mir und meiner Erlösung von Laurins Fluch lagen zentimeterdicker Stahl und eine unbekannte Zahlenreihe.
Gereizt versetzte ich der Tapetengeheimtür einen Stoß, und sie schlug zu. Ich sprang vom Schreibtisch. Mir würde wohl nichts anderes übrigbleiben, als auf eine Gelegenheit zu warten, Udo nachzuschleichen, wenn er heute Abend oder morgen früh in sein Arbeitszimmer ging. Vielleicht konnte ich ihn beim Eintippen des Zahlencodes beobachten und mir die Reihenfolge merken. Dann müsste ich nur noch Jonathan oder Herrn Spindler ins Haus einschleusen …
Hier endete meine Phantasie. Dass Udos alter Lehrer als Einbrecher fungieren würde, ging über meine Vorstellungskraft. Auf welche Weise sollten er oder Jonathan sich überhaupt an Claudia und den neugierigen Kindern vorbei ins Haus schleichen? Selbst wenn die Familie, wie gerade eben, nicht da wäre, bezweifelte ich, dass ich in Katzengestalt meine Helfershelfer ins Haus lassen könnte. Die Terrassentüren waren mit Schlössern gesichert, deren Schlüssel zwar von innen steckten, doch mit meinen Pfoten würde ich es nicht schaffen, sie umzudrehen, um jemandem von draußen Einlass zu verschaffen. Die Haustür hatte einen massiven Knauf, war bestimmt stets abgesperrt, so dass niemand einfach so hereinspazieren konnte.
Frust und Hoffnungslosigkeit machten sich in mir breit, und ein klägliches Wimmern entrang sich meiner Kehle. Würde ich je die Gelegenheit bekommen, den Ring zu finden, oder war ich dazu verdammt, nie wieder meine menschliche Stimme und Gestalt zurückzuerlangen?
Das Brummen eines Automotors näherte sich dem Haus. Claudia und die Kinder kamen zurück, viel früher als erwartet! Hastig huschte ich aus Udos Arbeitszimmer und zog mit Hilfe meiner ausgefahrenen Krallen die Tür so weit wie möglich zu. Sie ganz zu schließen, schaffte ich nicht, aber ich hoffte, es würde niemandem auffallen, dass sie vorher geschlossen und jetzt nur angelehnt war. Der Motor röhrte noch einmal auf und wurde dann abgestellt. Gleichzeitig begann im Flur eine goldene Uhr, die auf einem protzigen gold-weißen Tischchen mit zierlich geschwungenen Füßen stand, die volle Stunde zu schlagen. Elf helle Töne, die mich wie ein schmerzhafter Blitzstrahl durchfuhren. Keuchend krümmte ich mich nach vorne, verlor dabei das Gleichgewicht – und das Nächste, was ich wahrnahm, war der kühle Fliesenboden unter meiner Haut. Haut! Nicht Fell. Ich war keine Katze mehr, sondern wieder Emma. Und zwar nackt, so wie Jonathan, als er sich gestern kurz vor Mitternacht zurückverwandelt hatte. Nun ging es mir genauso, nur dass meine Verwandlung von Mitternacht bis zum nächsten Tag angedauert hatte, während es bei ihm umgekehrt war. Meine Erleichterung und das Glücksgefühl, wieder ein Mensch zu sein, währten jedoch nur kurz, denn jeden Moment würden Claudia und die Kinder hereinkommen. Nicht auszudenken, wie sie reagieren würde, wenn sie ihre ehemalige Praktikumslehrerin hier sah – ohne Klamotten und kein Jahr älter als vor fast dreißig Jahren! Ganz zu schweigen davon, welchen Schock Karla und Linus davontrügen.
Hastig rappelte ich mich auf und rannte kopflos in Claudias und Udos Schlafzimmer. Das Bett war zu niedrig, um mich darunter zu verstecken, also öffnete ich notgedrungen die Schiebetür von Claudias riesigem Kleiderschrank und schlüpfte hastig zwischen all die teuren Klamotten. Wie in einem schlechten Film, nur dass meine Rolle nicht die des Hausfreunds, sondern der Hauskatze war, dachte ich und hätte beinahe hysterisch losgekichert. Ich biss mir auf die Fingerknöchel, um jeglichen Laut zu ersticken, denn schon drang Claudias schrille Stimme durch den Flur und bis in mein Versteck.
»Euch kann man
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