Die gestohlene Zeit
auf. Auf den ersten Blick erkannte ich: Hier war ich richtig. Ein großer Raum, in dessen Mitte ein protziger Mahagonischreibtisch stand. Zwei dunkle Ledersessel waren um einen gläsernen Tisch gruppiert, und auf einem kleinen Tisch stand eine Karaffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Dass es sich dabei nicht um Tee handelte, war mir klar. Schließlich hatte ich die geplatzten Äderchen auf Udos Wangen gesehen. An der mit einer geschmacklosen lila-goldenen Tapete beklebten Wand hinter dem Schreibtisch hing zu allem Überfluss ein Ölgemälde, das einen stattlichen Mann in schwarzer Robe zeigte. Erst nach einer Weile ging mir auf, wen es darstellen sollte. Der Maler hatte Udo sehr vorteilhaft abgebildet und aus dem Mann mit der Figur eines Mastferkels einen dynamischen Anwalt auf die Leinwand gezaubert. Garantiert hatte Udo gut dafür gezahlt. Als ich daran dachte, dass er mich für die Aussicht auf Macht und Reichtum damals verletzt in den Bergen hatte liegen lassen, überkam mich eine unbändige Lust, dem Öl-Udo einen satten Kratzer quer über sein gepinseltes Angebergesicht zu verpassen, und ich beherrschte mich nur mühsam. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, dem Rahmen wenigstens einen kräftigen Tatzenhieb zu geben. Etwas
zu
kräftig, denn zu meinem Schrecken schwang das Gemälde erst nach links, dann nach rechts, wobei sich der Haken löste und das zweifelhafte Kunstwerk von der Wand fiel.
Ich erschrak. In Katzengestalt würde es mir niemals gelingen, das Bild wieder an seinen Platz zu hängen, um mein unerlaubtes Eindringen ins Zimmer zu vertuschen.
Im ersten Impuls wollte ich schon aus dem Zimmer flitzen, da entdeckten meine scharfen Katzenaugen eine Unregelmäßigkeit in der Struktur der Tapete, genau dort, wo das Bild gehangen hatte. Neugierig schlich ich näher und sprang auf den Schreibtisch, um einen besseren Blick zu haben. Ich reckte den Hals, und tatsächlich konnte ich vier Linien in der Wand ausmachen, die den Umriss eines Rechtecks bildeten. Ich streckte die Pfote aus und reichte gerade eben an die Tapete, wenn ich die Krallen ausfuhr. Ich versuchte, einen Spalt oder Riegel zu ertasten, mit dem ich das Fach oder was sich da auch immer in der Wand befand, öffnen konnte. Doch ich fand nichts, so hartnäckig ich die Krallen auch in die schmalen Ritzen zwängte.
Das durfte doch nicht wahr sein! Irgendein Geheimnis verbarg sich in der Wand, das sagte mir mein Instinkt. Ich reckte den Hals, um die Tapete genauer zu inspizieren, aber der Schreibtisch stand zu weit von der Wand weg. Ich beugte mich noch ein wenig mehr nach vorne, dann noch ein Stück – und verlor prompt das Gleichgewicht. Meine Pfoten suchten auf der glatten Mahagoniplatte vergeblich Halt. Schon sah ich den Boden unaufhaltsam näher kommen und schloss die Augen in Erwartung eines schmerzhaften Aufpralls. Stattdessen landete ich weich auf meinen vier Füßen, wie alle Katzen. Laurins Zauber hatte manchmal auch Vorteile, dachte ich aufatmend.
Das Problem des Wandgeheimnisses war damit aber noch nicht gelöst. Ich musste noch einmal nachsehen, doch in meinem leichten Katzenkörper war es mir unmöglich, den massiven Schreibtisch näher an die Wand zu rücken. Da fiel mein Blick auf Udos Schreibtischstuhl. Er besaß einen sternförmigen Fuß mit mehreren Rollen. Ich setzte zum Sprung an und landete mitten auf der ledernen Sitzfläche. Durch mein Gewicht geriet der Stuhl tatsächlich ins Rollen, allerdings nicht sanft, sondern er knallte mit ziemlicher Wucht gegen die Wand, und ich hieb meine Krallen tief ins Leder, um nicht heruntergeschleudert zu werden. Mein Kopf prallte hart gegen die Tapete, doch nach kurzer Benommenheit sah ich, dass ich meinem Ziel ein gutes Stück näher gekommen war. Nun befand sich die geschmacklose Tapete mit aufgemalten lila-goldenen Rosen und dunkelgrünen Ranken direkt vor meiner Nase. Langsam und sorgfältig ließ ich meinen Blick daran entlangwandern, inspizierte jedes einzelne Blatt und jede Blüte. Tatsächlich entdeckte ich genau in der Mitte einer violetten Rosenknospe einen winzigen schwarzen Knopf, der in dem grellbunten Muster beinahe unsichtbar war. Ich hob die Pfote und drückte mit meinem ganzen Gewicht dagegen. Sofort schwang eine schmale Tür mitten in der Wand auf. Ich war tatsächlich auf den verborgenen Mechanismus gestoßen. Mein Blick fiel auf eine stählerne Fläche, bei der es sich um einen Tresor handeln musste.
Leider erkannte ich auch sofort, wie gering meine Chancen
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