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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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würden. Die Schranktür ließ ich offen, für den Fall, dass ich mich blitzschnell wieder darin würde verstecken müssen.
    »Karla«, hörte ich ihre Mutter mit drohendem Unterton sagen, »hast du das Tier etwa hier im Haus gelassen?«
    Schweigen. Endlich hatte ich den einen Fuß in dem vermaledeiten Schuh. Hastig griff ich nach dem zweiten und versuchte nun, in den linken Stiefel hineinzukommen, indem ich mit beiden Händen am Schaft zog.
    »Das glaube ich jetzt einfach nicht«, keifte Claudia, »wo hast du das Biest versteckt?«
    Schwitzend und auf einem Bein balancierend kämpfte ich mit dem zweiten Schuh, und gerade als Karla schluchzend zugab: »Unter meinem Bett!«, rutschte mein linker Fuß mit Schwung in den Stiefel, so dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und rückwärts in den offenen Schrank gekippt wäre. Die Vorstellung, er würde unter meinem Gewicht krachend auseinanderfallen und mich unter einem Berg Haute Couture begraben, schoss mir durch den Kopf, und ich ruderte verzweifelt mit den Armen, um auf den Beinen zu bleiben. Zu meinem Entsetzen war Claudias Stimme nun so nahe zu hören, als stünde sie direkt vor der Schlafzimmertür. »Wenn das Vieh auf deinen Teppich gepinkelt hat oder Schlimmeres, dann setzt’s was, verstanden? Und du wirst es sauber machen!«
    »Wieso?«, erklang Karlas empörte Antwort, »dafür haben wir doch Irmela!«
    »Sie ist meine Putzfrau, und sie wird nicht den Dreck von einer räudigen Katze wegmachen, die DU angeschleppt hast, Fräulein«, erwiderte Claudia scharf.
    »Aber als Papa damals nach seiner Geburtstagsfeier in die leere Vase gekotzt hat, hast du auch zu Irmela gesagt …«, fing Karla an, doch Claudia schnitt ihr das Wort ab.
    »Das war was anderes. Also – wo ist das Mistvieh jetzt?«
    Zu meiner Erleichterung hörte ich, wie sich die Stimmen vom Schlafzimmer entfernten. Wahrscheinlich suchte Claudia erst einmal im Zimmer ihrer Tochter nach der Katze.
    Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Auf Zehenspitzen huschte ich zur Terrassentür. Der weiche, cremefarbene Teppich dämpfte meine Schritte. Zum Glück besaß ich wieder Finger statt Pfoten und konnte daher mühelos den kleinen Schlüssel umdrehen und anschließend den Hebel herunterdrücken. Behutsam, um keinen Lärm zu machen, öffnete ich die gläserne Tür, die über einen Kiesstreifen zum Garten hinausging, und schlüpfte hindurch. Ebenso leise drückte ich sie anschließend wieder ins Schloss, ehe ich geduckt zu den Büschen lief, die das Grundstück begrenzten. Ohne Rücksicht auf das Kleid zwängte ich mich zwischen einem Ginster und einem Rhododendron hindurch und stand auf der schmalen Straße, die das Wohngebiet durchzog und durch die ich heute am frühen Morgen mit Jonathan gegangen war. Kurz nach Sonnenaufgang waren die Jalousien der protzigen Häuser, die rechts und links das Sträßchen säumten, noch geschlossen gewesen. Jetzt konnte ich durch große, blankgeputzte Scheiben ins Innere blicken. Wertvolle Antiquitäten wetteiferten mit neuen, unbenutzt aussehenden Designersofas. Ich hoffte nur, niemand würde mich sehen, oder wenn, würde die Beschreibung zu ungenau ausfallen, um Udos Verdacht zu erregen. Ich verfiel in einen schnelleren Schritt und drückte eine halbe Stunde später außer Atem auf den Klingelknopf an Caros Gartenpforte. Die Tür wurde aufgerissen, und Lilly fiel mir um den Hals. »Mann, bin ich froh, dass du wieder da bist! Jonathans Erklärungen, wo du bist, klangen ja mehr als kryptisch«, sagte sie strafend, ehe sie einen bewundernden Pfiff ausstieß. »Schickes Kleid, übrigens! Woher hast du das?«
    »Das erkläre ich dir ein andermal«, wich ich aus, während mich Lilly bewundernd umkreiste.
    »Mit den Bikerboots sieht das ja obercool aus!«, rief sie und trat einen Schritt zurück, um mich von oben bis unten zu mustern. »Du solltest echt modeln«, stellte sie neidlos fest.
    Ich wurde verlegen, und mein Blick wanderte unwillkürlich zu Jonathan, der hinter Lilly aufgetaucht war. Er sagte nichts, aber sein strahlendes Lächeln wärmte mich von meinen roten Locken bis in die Zehenspitzen. »Emma, du bist wieder … da!«, sagte er, und nur wir beide wussten, dass es sich nicht nur auf meine Rückkehr zu ihm und Lilly bezog, sondern auch auf die Erlösung von dem Fluch, als Katze durchs Leben gehen zu müssen. Ich nickte glücklich.
    »Ähm, es ist fast zwölf Uhr mittags, und ihr habt bestimmt Hunger«, schaltete Lilly sich ein und grinste verschwörerisch.

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