Die gestohlene Zeit
wirklich nur zwei Mal mitnehmen – einmal zum Kennenlernen und das nächste Mal zum Entschuldigen! Vor meiner nächsten Verabredung mit Sabine liefere ich euch im Kinderparadies ab und überlege mir gut, ob ich euch überhaupt wieder abhole!«
»Aber Mirella-Sophie hat angefangen«, vernahm ich Linus’ quengelnde Stimme.
»Und Chantal hat mich geschubst«, klagte Karla.
»Ich will nichts mehr hören«, fauchte Claudia und klang fast, als hätte
sie
sich soeben in eine Katze verwandelt. »Ihr habt den Rest des Tages Fernsehverbot!« Ein zweistimmiges Heulen war die Antwort.
Ich stand derweilen starr zwischen unzähligen Kleidungsstücken und betete, dass Claudia nicht gerade jetzt auf die Idee kommen würde, den Schrank aufzumachen, um ihre neuerworbene Ausbeute hineinzuhängen. Wenn sie überhaupt noch Platz finden würde, denn der Schrank quoll schon jetzt fast über. Teure Seide streifte meine Wange, und an meinem nackten Rücken spürte ich die zarte Weichheit eines Kaschmirkleides.
»Nicht mal zum Shoppen sind Sabine und ich gekommen«, keifte sie in diesem Moment, und ich atmete auf. Bis mir Karla einfiel, die sicher sofort unter ihrem Bett nach der Katze suchen würde, die ich bis vor ein paar Minuten noch gewesen war. Wenn sie mich dort nicht fand, würde sie bestimmt die ganze Wohnung durchkämmen. Ich musste hier weg, und zwar schnell. Da ich aber schlecht splitterfasernackt aus dem Schrank und dann aus dem Fenster hüpfen konnte, beschloss ich, mir von Claudia ein paar Klamotten – nun ja,
auszuleihen.
Andererseits: Hatte Udo nicht auch mir damals den Ring weggenommen? Ausgleichende Gerechtigkeit, dachte ich und zog das erstbeste Stück, das ich zu fassen bekam vom Bügel. Es handelte sich um ein zartes, vanillefarbenes Spitzenkleid, auf dessen Etikett im Rücken »Versace« stand. Von mir aus hätte es auch ein Jutebeutel sein können, Hauptsache, ich hatte irgendetwas anzuziehen. In einem eingebauten Schrankfach lagen tatsächlich mehrere Dessous, die Claudia offenbar gekauft und noch nicht einmal ausgepackt hatte. Kein Wunder, allein ihre Sammlung Spitzen-BHs, die im Regal neben den Kleiderbügeln lagen, dürfte sich auf geschätzt drei Dutzend belaufen. Hastig riss ich die Originalverpackung einer Kombination aus Höschen und BH im zarten Roséton auf und schlüpfte hinein, wobei ich versuchte, möglichst lautlos zu agieren und nicht an die Schrankwände oder irgendwelche Kleiderbügel zu stoßen. Zu meiner Verwunderung passten mir die Sachen. Seltsam, denn 1987 hatte Claudia deutlich weniger Oberweite vor sich hergetragen als ich. Ihre Körbchengröße schien in den vergangenen Jahren auf magische Weise zugenommen zu haben, bis mir einfiel, was mir Lilly erzählt hatte: dass in der heutigen Zeit nicht nur Lippen, sondern auch Brüste vergrößert wurden, so rasch und selbstverständlich, wie man sich früher eben mal eine Dauerwelle zugelegt hatte. Wie eine Schlange wand ich mich in das zarte Spitzenkleid, konnte aber nicht verhindern, dass ich mit dem Ellbogen gegen eine der Türen stieß und ein Poltern ertönte. Vor Schreck hielt ich die Luft an. Hatte Claudia es gehört und würde gleich ins Zimmer stürmen?
»Mamaaa, meine Katze ist weg!«, hörte ich in dieser Sekunde Karla laut jammern, und nun war es für mich wirklich höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen. Hastig ließ ich meinen Blick über den Boden des Schranks schweifen, wo mehrere Schuhe in Kartons verpackt lagen. Mit fliegenden Fingern öffnete ich den erstbesten. Zwei silberne Sandaletten mit schwindelerregend hohen Absätzen kamen zum Vorschein. Wenn ich versuchen würde, in denen zu laufen, würde ich mir beide Beine gleichzeitig brechen. Ich warf die Sandaletten in die Ecke des Schranks und riss den Deckel der zweiten Schuhschachtel auf. Diesmal waren es lackrote Stilettos. Zum Glück entpuppte sich mein dritter Versuch als ein Paar knöchelhohe braune Wildlederstiefel mit einer Schnalle an jeder Seite und flachem Absatz.
»Was soll das heißen, die Katze ist weg! Natürlich ist sie das, ich habe dir doch vorhin gesagt, du sollst sie rausbringen«, hörte ich nun Claudia.
Möglichst lautlos stieg ich aus dem Schrank und versuchte draußen, in die Schuhe zu schlüpfen, aber sie waren offenbar ebenfalls neu und noch etwas eng. Unsanft begann ich, meinen rechten Fuß in einen der Stiefel hineinzuzwängen, während ich weiter lauschte, ob einer von beiden oder am Ende Mutter und Tochter zusammen ins Zimmer kommen
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