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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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verhindern, dass mein Herz etwas schneller klopfte. Was würde uns dort drin erwarten? Unser Plan war verdammt wackelig, und es konnte eine Menge schiefgehen. Angefangen damit, dass wir erst mal reinkommen mussten.
    In dem Moment wurde die Tür aufgerissen, und in ihrem Rahmen stand eine Gestalt, die aussah wie etwas Großes aus der Muppets-Show. Die T-Shirt-Ärmel platzten fast unter den Muskelbergen des Bizeps, der kahle Kopf schien direkt auf den massigen Schultern zu sitzen, und trotz der Sonnenbrille auf der Nase sah der Türsteher nicht nach entspannter Urlaubsstimmung aus, sondern glich eher einem Stier, dem man gerade mit einem knallroten Tuch vor der Nase herumwedelte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob der Typ wohl auch mit den Bärenkräften der Zwerge fertig geworden wäre. Der Mann musterte Jonathan und mich von oben bis unten.
    »Geburtsjahr?«, bellte er und nahm mich scharf ins Visier.
    »Neunzehnhundertsechsundsechzig«, rutsche es mir reflexartig heraus. Das Gesicht des Türstehers blieb unbewegt. »Und wie alt bist du?«, blaffte er Jonathan an.
    Bevor ich ihm einen warnenden Knuff versetzen konnte, antwortete der höflich: »Da wir uns im dritten Jahrtausend befinden, zähle ich inzwischen zweihunderteinundzwanzig Lenze, werter Herr.«
    Ich schloss die Augen und erwartete jeden Moment, die Gorillapranke in meinem Rücken zu fühlen, die uns beide hinaus in die kühle Nachtluft befördern würde. Doch nichts passierte. Vorsichtig öffnete ich ein Auge und sah, dass sich der Mund des Riesen unter der schwarzen Brille zu einem breiten Grinsen verzogen hatte. »Alles klar, ihr zwei Vögel. Ich sehe schon, ihr habt euch unserem Motto heute Abend angepasst!«, sagte er und wies mit dem Daumen auf ein Plakat, das hinter ihm an der Wand hing.
    Ich drehte mich um und sah das heutige Datum und darunter in knalligen Buchstaben die Ankündigung »Freak’s Night«.
    Jonathan blickte ziemlich verwirrt, was den Gorilla veranlasste, ihm mit seiner Hand von der Größe eines Toilettendeckels aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. »Nun schau nicht so kariert, Kumpel! Ihr seid drin«, sagte er und trat einladend einen Schritt beiseite.
    »Besten Dank, gnädiger Herr«, murmelte Jonathan mit einer knappen Verbeugung. Unter dem wiehernden Gelächter des Türstehers, der das Ganze wahrscheinlich für eine besonders gelungene Inszenierung hielt, zerrte ich Jonathan eine Betontreppe hinunter, die von blauen Leuchtleisten gesäumt war und in die Clubräume nach unten führte.
    Donnernde Beats, untermalt von roten und gelben Lichtblitzen, empfingen uns. Der Club war im Stil eines Amphitheaters angelegt, mehrere Stufen mündeten in einer kreisrunden Tanzfläche, auf der die Körper von jungen Frauen und Männern zu der wummernden Musik im Takt zuckten. Jonathan blieb stehen und blinzelte verblüfft. »Was tun diese Leute da? Ist ihnen nicht wohl?«, wollte er wissen.
    »Sie tanzen«, erwiderte ich.
    Jonathan lachte ungläubig. »Nein, Emma, das ist kein Tanzen, das ist …«, er zögerte und nahm die Tanzfläche noch einmal in Augenschein. »Es sieht aus wie eine Teufelsaustreibung«, bemerkte er und fixierte kopfschüttelnd eine junge Frau, die einen neonfarbenen Rollkragenpullover ohne Ärmel samt Hotpants aus einem glänzenden Stoff trug und sich mit kunstvollen Verrenkungen zur Musik bewegte.
    »Wir befinden uns im Jahr 2014 , Jonathan«, sagte ich grinsend. »Die Zeiten von Menuett und was man bei euch sonst noch so getanzt hat, sind vorbei.«
    Gerade beugte sich der DJ zu seinem Mikro und kündigte »einen Oldie für alle, die auf die Vergangenheit stehen« an. Die ersten Takte von »The Eyes Of A Fool« und die markant-rauchige Stimme von Bonnie Tyler ertönten.
    »He, das kenne ich!«, rief ich unwillkürlich. »Das ist die Musik aus
meiner
Zeit!«
    Jonathan lauschte kurz, dann grinste er. »Nun, Emma, wir wissen beide, die Zeit hat unterschiedliche Bedeutung. Wer sagt also, was vorüber ist und was nicht?«, gab er zurück. Ich verstand kein Wort, bis er sich formvollendet verbeugte.
    »Darf ich zum Tanz bitten?« Noch bevor ich reagieren konnte, hatte er meine Hand genommen und seine andere leicht auf meine Hüfte gelegt. Jonathan musste den langsamen Walzer in dem Song herausgehört haben, denn er führte mich leicht, aber bestimmt in einem Dreivierteltakt über die Tanzfläche.
    Zuerst ernteten wir verblüffte bis amüsierte Blicke von den Tanzenden, dann aber wichen sie zurück und machten uns feixend

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