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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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ist …«
    »… was du anziehst«, fiel Lilly mir ins Wort und musterte mich fachmännisch. »Wenn du mich fragst, trägst du am besten wieder das Spitzenkleid und die Boots. Damit siehst du gleichzeitig edel und scharf aus. Dazu schwarzen Lidstrich, zweifach getuschte Wimpern und ordentlich knallroten Lippenstift. Ich helfe dir beim Schminken, wenn du willst.«
    Ich nickte ergeben. Was Caro jahrelang vergeblich versucht hatte, gelang nun fast dreißig Jahre später ihrer Tochter: Ich würde mich das erste Mal im Leben richtig stylen.
     
    Kurz nach 23  Uhr standen Jonathan und ich vor dem
Ambrosia.
Mit dem letzten vollen Schlag der Uhr war Jonathan wieder zum Menschen geworden. Um keine Zeit zu verlieren, hatte ich vorgesorgt und eine Jeans sowie ein einfaches schwarzes T-Shirt samt dem Paar neuer schwarzer Turnschuhe von Lillys Vater in die Stadt mitgenommen. Ich hatte auf Lillys Drängen tatsächlich Claudias Designerfummel und die Bikerboots wieder angezogen. Es war das teuerste Outfit, das ich jemals im Leben getragen hatte. Und auch sonst erkannte ich mich kaum wieder. Lilly hatte ganze Arbeit geleistet: Meine roten Locken waren zu einem schlichten Knoten gebändigt, aus dem sich nur seitlich zwei einzelne, kunstvolle Strähnen kringelten. Einzig ein dünner Lidstrich und braune Wimperntusche betonten meine Augen, dafür leuchteten meine Lippen in einem Rot, das an Laurins Rosen erinnerte.
    Als ich aufgedonnert wie die Callas aus dem Badezimmer kam, saß der Rabe völlig paralysiert vor dem großen Flachbildschirm in Caros Wohnzimmer und lauschte konzentriert einer TV -Sendung, die »Dreimal darfst du raten« hieß, wie eine quietschgelbe Schrift verriet, die alle zehn Sekunden eingeblendet wurde.
    »Ich weiß auch nicht, was er an diesem Rätselquatsch so toll findet. Aber seit ich ihm heute Vormittag den Fernseher angeschaltet habe, sieht er sich diese Sendung an. Die läuft ja in der Dauerschleife, und er ist einfach nicht von der Glotze wegzukriegen«, informierte mich Lilly leise.
    »Ein Mann hat fünf Äpfel, aber sieben Kinder. Wie teilt er die Äpfel
trotzdem
gerecht auf, meine Damen und Herren?«, plärrte in diesem Moment der Moderator, ein Mann mit Hasenzähnen und schriller Krawatte. Lilly verdrehte die Augen.
    »Jonathan hat einen besonderen Bezug zu Rätseln, aber das ist eine lange Geschichte«, flüsterte ich Lilly zu, während der Moderator strahlend die Lösung präsentierte: »Er macht … Apfelmus! Ja, verehrtes Publikum, beim Rätsellösen ist Um-die-Ecke-Denken gefragt! Wir sind gleich wieder für Sie da!«
    Die Schlussmelodie ertönte, und Jonathan drehte den Kopf und erblickte mich.
    In Rabengestalt war er nicht fähig, mein Aussehen zu kommentieren, aber er segelte zweimal um mich herum, wobei er anerkennend pfiff. Mit dem schwarzen Vogel auf der Schulter hatte ich Caros Haus schließlich verlassen und den Weg zum Club eingeschlagen.
    Gut verborgen in einem Torbogen, hatten der Rabe und ich auf die tiefen, hallenden Schläge der Stadtkirche gelauscht, und keine zwei Minuten nach ihrem Verstummen war Jonathan in Jeans und T-Shirt aus dem Schatten des Torbogens getreten. Erleichtert hatten wir uns umarmt, für mehr als einen schnellen Kuss blieb leider keine Zeit. Wir mussten Udo finden und damit vielleicht den Schlüssel zum Versteck des Zauberrings.
    Zunächst einmal galt es aber den »Pitbull von Türsteher« zu überwinden, vor dem Lilly uns gewarnt hatte. Sie wusste ziemlich gut Bescheid, weshalb ich sie im Verdacht hatte, bereits einen Versuch gestartet zu haben, sich trotz ihrer fünfzehn Jahre ins
Ambrosia
zu schmuggeln. Zwar hatte sie das energisch bestritten, dabei aber so schuldbewusst dreingeschaut wie der Hausmeister-Hund an unserer Schule früher, wenn er mal wieder heimlich unsere Pausenbrote aus der Schultasche geklaut und gefressen hatte. Lilly war von mir deswegen extra noch einmal energisch ermahnt worden, zu Hause zu bleiben und den Abend vor dem Fernseher zu verbringen. Es reichte, wenn ich mich in Gefahr brachte.
    Der Abend im angeblich heißesten Club der Stadt begann für Jonathan und mich vor einer unscheinbaren Tür mit einem kleinen Guckloch in der Mitte und einem schlichten Klingelknopf an der Seite.
    »Was sind das für merkwürdige Sitten? Früher gab es Einladungen zu einem Ball. Wir fuhren mit einer Kutsche dorthin und wurden von Dienern in Livrée empfangen«, wunderte Jonathan sich, während ich zögernd die Klingel betätigte.
    Ich konnte nicht

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