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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Platz. Ich wusste nicht, ob ich verlegen werden oder die Sache lustig finden sollte, daher konzentrierte ich mich lieber voll und ganz auf Jonathan.
    »Du kannst Walzer?«, fragte ich etwas atemlos, denn im Tanzkurs hatte ich nicht gerade im Standardtanz geglänzt.
    »Nein, das ist der ›Deutsche Tanz‹. Er war üblich, bis das Menuett die Allemande verdrängte. Eigentlich galt er als unmoralisch und wurde 1760 in Süddeutschland verboten. Der Kavalier sollte die Dame nicht unsittlich berühren«, raunte mir Jonathan zu.
    Ich musste lachen. »Also ist deine Hand an meiner Taille schon unsittlich?«, fragte ich. Er nickte.
    »Kaiser Joseph  II . zelebrierte diesen eher volkstümlichen Tanz allen Anordnungen zum Trotz bei seinen Bällen in Wien.«
    Er fasste mich etwas enger, und ich überließ mich seiner Führung. Plötzlich war alles ganz leicht. Ich schien mit Jonathan über die Tanzfläche zu schweben, und die Wärme seiner Hände strahlte durch mein Kleid bis auf die Haut aus. Fast bedauerte ich es, als das Lied zu Ende war.
    Jonathan und ich blieben noch einen Augenblick Hand in Hand stehen, während ein paar der Gäste lachten und klatschten. Da erklangen schon die Takte des nächsten Songs, einer ziemlich schnellen Nummer. Wahrscheinlich stand der DJ nicht so auf die Kaiserwalzer-Nummer in seinem Club. Ich überlegte gerade, ob ich Jonathan zum Ausgleich ein paar Tanzbewegungen der späten Achtziger beibringen sollte, da schob sich ein massiger Schatten durch den Eingang, gefolgt von einer gekrümmten Silhouette, deren hervorspringende Nase und das fliehende Kinn sich scherenschnittartig im zuckenden Stroboskoplicht abzeichneten. Obwohl ich ihn seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, erkannte ich Frank sofort an seiner geduckten Körperhaltung. Ich drehte mich um, packte Jonathan am Arm und versuchte, den Lärm der Musik zu übertönen. »Udo und Frank sind da«, schrie ich ihm ins Ohr. Jonathan drehte suchend den Kopf.
    »Der Dicke und der Dünne, die gerade auf uns zukommen?«, fragte er, und ich zuckte zusammen. Mit einem hastigen Blick über die Schulter erkannte ich, dass Jonathan recht hatte. »Sie dürfen mich nicht sehen«, rief ich. Doch die Tanzfläche war knallvoll, dort war kein Durchkommen. Und wenn wir versuchten, zum Ausgang zu gelangen, würden wir Udo und Frank direkt in die Arme laufen. »Was machen wir jetzt?«, schrie ich angstvoll. Nicht auszudenken, wenn einer von beiden mich sah und vor allem – erkannte!
    Wortlos zog Jonathan mich dicht zu sich heran und legte die Arme um mich – so eng, dass ich fast keine Luft mehr bekam und mein Kopf gegen seine Schulter gepresst wurde.
    »He, warte mal …«, gurgelte ich dumpf, doch unbeirrt hielt er mich fest. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an ihn zu schmiegen.
    »Halte dein Gesicht verborgen, und niemand wird Verdacht schöpfen«, raunte Jonathans Stimme dicht an meinem linken Ohr, während seine rechte Hand zärtlich meinen Nacken umfasste.
    Obwohl mein Herz immer noch raste und sich anfühlte, als würde es mir gleich aus der Brust springen, durchrieselte mich bei seiner Berührung ein warmes, tröstliches Gefühl, und ich entspannte mich etwas. Sekundenlang gab es nichts anderes als Jonathan und mich, zwei Verliebte, die engumschlungen dastanden und die Welt um sich herum vergessen hatten.
    Nach etwa einer Minute löste er sich von mir und spähte vorsichtig umher. »Keine Sorge. Die beiden stehen nun mit dem Rücken zu uns an einem langen Tisch«, beruhigte er mich, und ich riskierte jetzt ebenfalls einen Blick über die Schulter. Udo und Frank hatten sich an die Bar gestellt, jeder von ihnen mit einem Cocktail vor sich.
    »Am besten, du bestellst ein Bier und versuchst, unauffällig in ihre Nähe zu kommen. Vielleicht kannst du hören, worüber sie reden. Ich verziehe mich in die Ecke da hinten, und sobald du etwas herausgefunden hast, kommst du zu mir, und wir hauen ab!« Jonathan nickte. Vorsichtshalber schärfte ich ihm noch ein: »Wir müssen vor Mitternacht hier verschwunden sein, vergiss das nicht!«
    Wieder nickte er und berührte kurz meine Wange zum Zeichen, dass er verstanden hatte, ehe er sich durch die Menge der Clubbesucher seinen Weg zur Bar bahnte.
    Ich umkreiste die Tanzfläche und hielt Ausschau nach einem Sitzplatz, da baute sich ein Typ mit platinblonden Stoppelhaaren und einem leicht vorstehenden Gebiss vor mir auf.
    »Hallo, Königin der Nacht! Lust auf einen Wodka-Bull? Verleiht nicht nur

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