Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
mit schmutzigen und entzündeten Händen fest.
Auch der Matrose bewegte sich nicht.
Als Jonas sich – ein wenig ruhiger geworden – umsah, bemerkte er, dass auch John Hudsons Marker erstarrt war und genau an der Stelle lag, an der auch er sich noch Sekunden zuvor befunden hatte. Der Marker schien von dem Mann über sich nichts zu ahnen. Sein Kopf befand sich direkt unter dem Knüppel, das perfekte Ziel.
Der Marker bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle, nicht einmal mit dem Rollen des Schiffs.
Aber eigentlich bewegte sich auch das Schiff nicht mehr. Die
Discovery
verharrte regungslos auf dem Kamm einer Dünung, die sie auf der rechten Seite anhob und auf der linken nach unten sacken ließ.
»Sag mal, HK«, sagte Jonas und zog in aller Ruhe den Definator aus dem Umhang. »Warum hast du beschlossen, die Zeit anzuhalten?«
»Jonas!«, mit einem Aufschrei schoss Katherine hinter dem Knüppel schwingenden Matrosen hervor. »Der Mann wollte dich umbringen!«
Jonas sah, dass sie den Matrosen an den Armen gepackt und versucht hatte, ihn zurückzuhalten.
»Kugelsicher! Stichsicher!«, fauchte sie. Sie riss ihrem Bruder den Definator aus der Hand und schrie direkt hinein. »Du hast es so dargestellt, als ob Jonas nichts passieren könnte! Wie soll ihn ein blödes Kostüm davor bewahren, totgeschlagen zu werden?«
»Katherine«, sagte HK. »Jonas. Schaut euch den Mann mit dem Knüppel genau an.«
Jonas schaute.
Zuvor hatte er nur den Schmutz und den unbarmherzigen Gesichtsausdruck wahrgenommen. Jetzt betrachtete er das Gesicht des Mannes genauer: Seine Augen lagen noch tiefer in den Höhlen als die des Markers, seine Wangen waren von Wunden übersät und die Knochen zeichneten sich so deutlich ab, als könnten sie jeden Moment die papierne Haut durchstoßen.
»Ich habe schon Skelette gesehen, die gesünder aussahen«, sagte HK. »Er hat kaum genug Kraft, um den Knüppel hochzuheben.«
Es stimmte: Selbst in erstarrtem Zustand sahen die Arme des Mannes aus, als hätten sie beim Schwingen des Knüppels vor Anstrengung gezittert.
»Er hätte Jonas nicht wirklich wehtun können«, sagte HK. »Aber John Hudson, der Marker, ist auch nicht viel besser dran. Ein leichter Schlag und er ist aus dem Rennen, bis er im Ruderboot liegt.«
»Also soll ich während einer ganzen Meuterei so tun, als ob ich ohnmächtig wäre?«, fragte Jonas. Natürlich hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was er tun und sagen sollte. Aber war das nicht doch ein wenig … beleidigend? »Hättet ihr für die Rolle nicht einfach eine Puppe nehmen und mich aus dem Spiel lassen können?«
»Das hätte nicht funktioniert«, sagte HK, der nun wieder angespannt klang. »Es war nicht genug Zeit,wir hatten die Sache nicht im Griff.« Jonas spürte einen eisigen Windstoß und das Schiff legte sich leicht nach links, ehe es mit ordentlicher Schieflage wieder erstarrte. »Schnell! Ich kann es nicht länger anhalten! Leg dich wieder an deinen Platz, Jonas!«
Jonas warf seiner Schwester einen Blick zu. Normalerweise war er ein ziemlich folgsamer Junge. Das Leben war einfacher so, fand er. Lieber zwei Minuten erübrigen und den Müll raustragen, als sich einen fünfundvierzigminütigen Vortrag anzuhören, dass »jeder in der Familie eine gewisse Verantwortung hat und seinen Anteil übernehmen muss« und dass »wir nur versuchen, dich auf das Leben als Erwachsener vorzubereiten, Jonas. Dann musst du dich um dich selbst und um andere kümmern …« Und so weiter und so weiter.
Aber Jonas war auch sein Leben lang mit Erwachsenen zusammen gewesen, mit Eltern, Lehrern und Trainern, die nicht müde wurden, ihm Dinge zu erklären. »Der Grund, warum du dein Zimmer putzen sollst, ist der …« »Du musst bei dieser Aufgabe den kompletten Rechenweg aufzeigen, weil …« »Wenn du den Ball abgibst, statt selbst aufs Tor zu schießen, dann …«
Am liebsten hätte er Katherine beiseitegezogen. Gab es eine Möglichkeit, jemanden doppelt aus der Zeit zu holen? Er wollte unter vier Augen mit ihr sprechen, an einem Ort, an dem HK sie nicht hören konnte. Was war, wenn es eine ganz, ganz schlechte Idee war, HK zufolgen? Wenn sie ihm doch nicht vertrauen konnten? Wenn er sie anlog? Sollten er und Katherine vielleicht ihre eigene Meuterei anzetteln?
Jonas versuchte all diese Fragen in einen einzigen Blick zu legen. Er wusste nicht, ob Katherine auch nur eine davon verstand, aber sie verzog gequält das Gesicht.
Dann schob sie ihm den
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