Die Gewandschneiderin (German Edition)
gemacht hatte.
„Soll ich dir etwas sagen? Ich besorge mir jetzt wirklich einen Stock, mit dem ich den Hund beschützen kann. Und du wählst derweil einen Namen für ihn aus.“
Nach einigem Suchen fand Anna einen passenden Knüppel. Er war etwa so lang wie ihr Unterarm, hatte ein dickeres Ende und nur wenige Astansätze. Sie lief umher und drosch auf alles ein, was nicht lebendig war - Bäume, Maulwurfshügel, Grassoden und lose Äste. Hätte sie gewusst, wie gut das tat, hätte sie es schon früher damit versucht. Schließlich stand sie erschöpft und schwer atmend vor Marie und dem Welpen.
„Bär! Anna, unser Hund heißt Bär!“
„Warum nennst du ihn nach einem Bären?“, fragte Anna.
„Irgendwann ist er sehr groß, wie der Bär, mit dem Vors mir immer Angst gemacht hat, und dann frisst er Maffrit“, kicherte Marie.
„Aber nun komm! Wenn er vor uns zu Hause ist, setzt es Prügel. Außerdem müssen wir noch ein Versteck finden“, sagte Anna.
Marie hatte den Hund fest an die Brust gedrückt und hüpfte den ganzen Weg über selig lächelnd neben Anna her. Anna gönnte ihr das kleine Glück von Herzen, denn in Maffrits Haus war das Glück ein seltener Gast.
„Ruhig!“, zischte Anna, doch der kleine Hund folgte nicht. Er wollte nicht in dem Strohhaufen sitzen bleiben, den sie in der Ecke hinter dem gebrochenen Wagenrad aufgeschüttet hatte.
„So kommen wir nicht weiter. Marie, halt ihn fest, ich hole eine Schnur.“
Anna stahl sich ins Haus zurück und horchte. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Rasch wickelte sie eins der Lederbänder von ihrem Bündel und hastete zum Stall zurück. Erleichtert bemerkte sie, dass Maffrits Wagen noch nicht im Hof stand. Bis er wie immer völlig betrunken nach Hause kam, musste das Versteck fertig sein.
Doch was war das? Ein grauer Zipfel lugte hinter dem Stallbalken hervor. Es konnte nicht Marie sein, die trug ein braunes Kleid. Leise schlich Anna näher, fasste um den Balken herum und bekam einen feisten Arm zu packen.
„Beatke!“, rief Anna gedämpft. „Bespitzelst du uns etwa?“
„Ich habe den Hund gesehen! Ich will ihn auch einmal halten, sonst verrate ich euch an Mutter!“, quiekte Beatke.
Drohend richtete sich Anna vor der kleinen Base auf.
„Wehe dir! Verrat uns, dann …“
Sie konnte die Drohung nicht beenden, denn Beatke fiel ihr ins Wort. „Bitte! Ich will ihn doch nur streicheln. Ich möchte ja auch nicht, dass ihm etwas geschieht.“
Plötzlich stand Marie neben ihnen, den Hund im Arm.
„Lass sie, wir können Hilfe gebrauchen, besonders beim Füttern. Und Beatke weiß immer, wo etwas zu essen zu holen ist“, gab Marie zu bedenken.
„Meinetwegen, aber wenn du es herumerzählst …“
Beatke hörte gar nicht mehr zu. Verzückt kraulte sie dem Welpen die hübschen Ohren, bis Anna ihn schließlich mit dem Lederbändchen auf seinem Strohplatz anband und die Mädchen aus dem Stall scheuchte.
Maffrit war spät nach Hause gekommen. Evphemia hatte sich schon in die Kammer zurückgezogen, sodass Anna ihm die dünne Suppe hatte auftragen müssen. Doch der Onkel war so betrunken gewesen, dass er nicht wie sonst am Essen herumgemeckert hatte. Nun lag er auf dem Podest neben Anna und schnarchte sich die Seele aus dem Leib.
Im Gegensatz zu Marie, die nach dem aufregenden Tag sofort eingeschlummert war, fand Anna keine Ruhe. Hatte sie wirklich das Richtige getan? Was, wenn der Onkel und die Tante den Hund entdeckten? Womit sollte sie ihn füttern? Sicher würde er jämmerlich fiepen, so wie jetzt, und dann …
Anna fuhr der Schreck in die Knochen. Bär jaulte. Und Maffrit regte sich!
„Evphemia?“ Maffrit furzte, richtete sich auf und glotzte blöd in das Halbdunkel. Hinter ihm richtete sich Beatke mit entsetztem Gesicht auf.
„Evphemia!“, rief der Onkel. Im schwachen Schein des erlöschenden Feuers tastete er nach seinem Weib. Doch besoffen, wie er war, erinnerte er sich nicht daran, dass sie in der Kammer schlief. Mit der Linken griff er nach Annas Brust und grunzte. Sie packte den Stock, den sie neben sich gelegt hatte, für alle Fälle. Doch dann sah sie Beatkes weit aufgerissene Augen. Der Hund jaulte noch immer. Beatke schüttelte den Kopf.
„Nicht“, flüsterte das Mädchen. „Er schläft gleich wieder ein.“
„Schlaf, Maffrit“, raunte Anna trotz aufsteigender Panik, bemüht, die haarige Hand auf ihrer Brust nicht zu beachten.
Maffrit grunzte ein zweites Mal, diesmal zufrieden, und ließ sich auf seinen Strohsack
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