Die Gewandschneiderin (German Edition)
schauen, und die Wolken werden vorbeiziehen. Und dann wirst du keine Angst mehr haben, sondern glücklich sein und an mich denken, weil ich das Mädchen bin, das schon lange keine Angst mehr hatte.“
Hoffentlich, dachte Anna. Wenn bloß Maffrit nicht wäre! Sie schüttelte das Unwohlsein ab und setzte sich auf.
„Du hast recht. Ich bin groß und habe mehr Angst als du. Soll ich dir etwas sagen? Ich suche mir einen Stock und übe damit das Hauen. Vielleicht hilft das. Und du bleibst liegen und verteidigst die Milch, falls ein Bär kommt.“
Marie lachte. Anna lief zu den Büschen und suchte den Boden ab. Doch noch bevor sie einen brauchbaren Stecken gefunden hatte, entdeckte sie etwas anderes.
„Marie, du glaubst es nicht!“
„Was denn?“
Sie musste nicht antworten. Der kleine Welpe, der neben seiner toten Mutter im Gebüsch lag, schien schwach, aber sein Fiepen war nicht zu überhören. Anna drängte sich zwischen den Ästen hindurch und barg das Fellbündel in den Händen. Myriaden von Fliegen stoben von dem Hundekadaver neben ihr auf, nur um sich einen Augenblick später wieder darauf niederzulassen. Anna wurde übel. Schnell nahm sie den Welpen und kroch aus dem Gehölz hervor. Keuchend stand sie vor Marie.
„Das war doch ein Hund, oder? Woher hast du den?“, rief Marie begeistert.
„Aus dem Gebüsch …“
„Darf ich ihn einmal halten? Bitte!“, flehte Marie und streckte suchend beide Arme aus.
Vorsichtig legte Anna das kleine Geschöpf in Maries Hände.
„Er sieht schwach aus, ich bin nicht sicher, ob er schon alt genug ist. Bestimmt braucht er noch …“
„Milch!“, riefen beide Mädchen gleichzeitig.
Anna zupfte ein Blatt von einem Baum, rollte es zusammen und tauchte es in die Milch. Erst wusste das Hündchen nichts damit anzufangen. Als ihm aber ein Tropfen an der Nase hängen blieb, leckte er ihn mit der winzigen rosafarbenen Zunge ab und schleckte an dem Blatt.
„Was tut er?“
„Er trinkt. Vielleicht kommt er durch.“ Doch Annas Freude währte nur kurz. Wo sollten sie den Hund lassen?
„Kann ich ihn behalten? Bitte Anna, ich passe gut auf ihn auf!“, rief Marie.
Den Hund mitnehmen? Zu Maffrit und Evphemia? Anna überlief ein Frösteln. Und auch Marie ließ die schmalen Schultern hängen.
„Wenn wir ihn mitnehmen, schlägt er den Kleinen tot.“
„Oder sie schlägt ihn tot, weil er ein unnützer Esser ist“ , fügte Anna bitter hinzu. Sie seufzte.
„Anna? Wenn wir ihn nicht mitnehmen können …“ Marie kraulte das Tierchen behutsam zwischen den Ohren.
„Was?“, fragte Anna.
„Vielleicht … Meinst du nicht, er würde lieber von jemandem totgemacht werden, der ihn mag?“, fragte Marie.
„Wie meinst du das?“
„Wenn wir ihn totmachen, muss er nicht so lange leiden. Wer weiß, was Maffrit mit ihm anstellt. Und hier in den Büschen fressen ihn die anderen Tiere, oder er verhungert. Wie lange dauert Verhungern?“, bohrte Marie weiter.
Anna wollte nichts davon hören - sie konnten den Welpen doch nicht totschlagen, nur damit er nicht leiden musste.
„Ich wäre jedenfalls lieber tot als zu leiden.“ Marie schniefte.
Anna schwieg. Was hätte sie auch erwidern sollen?
Doch Marie unterbrach die Stille. „Gut, wenn du es nicht kannst, dann tue ich es. Wie macht man denn einen Hund tot?“
„Das weiß ich nicht, aber nun warte doch!“, versuchte Anna die Blinde zu beschwichtigen.
„Ich will nicht warten. Sonst fällt es mir immer schwerer, das weiß ich. Such mir einen dicken Stock, und dann halt ihn am Boden fest, damit ich daraufschlagen kann.“
Anna rührte sich keinen Zoll. Marie rannen dicke Tränen aus den Augen.
„Muss ich alles selbst erledigen?“ Vorsichtig setzte Marie den Hund ab und tastete im Gras umher, um einen geeigneten Stock zu finden.
„Hör auf !“, schrie Anna, doch Marie hörte nicht und kroch weinend weiter.
„Hör auf!“, wiederholte Anna. „Wir nehmen ihn mit.“
Marie hörte auf zu schluchzen und wandte sich mit ungläubiger Miene in die Richtung, in der sie Anna vermutete.
„Hast du gerade gesagt, wir nehmen ihn mit?“, fragte sie.
Anna wusste, dass sie diese Entscheidung noch bereuen würde. Womit wollten sie den Welpen füttern? Wie sollte sie ihn beschützen? Sie konnte nicht einmal sich selbst und Marie beschützen.
„Ja, wir nehmen ihn mit. Zusammen in Not ist besser als allein tot“, erklärte Anna. Erst als sich Marie kichernd die Tränen von den Wangen wischte, merkte Anna, dass sie einen Reim
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