Die Gewandschneiderin (German Edition)
morgen als Hilfsnäherin an, oder du gehst. Wenn du meinst, du hast es da draußen besser, ganz allein, dann weine ich einem überflüssigen Esser bestimmt nicht hinterher.“
Das Knarren der schweren Tür hatte Anna in ihrer Aufregung nicht wahrgenommen.
„Willst du weg?“
Marie stand im Durchlass. Wie viel hatte die Kleine mit angehört? Natürlich wollte sie weg. Aber wohin? Und sie hatte dem Vater und Johann doch ein Versprechen gegeben …
Doch erst als Marie sie ansprach und die ältere Freundin mit ihren wunderschönen, so nutzlosen Augen verstört anstarrte, wusste Anna, was sie zu tun hatte.
„Schon gut. Ich tue, was du sagst.“
Sie kämpfte die Tränen nieder und nahm Marie an die Hand.
„Hast du das Stroh? Dann komm, wir richten das Bett neu …“
Die dicke Frau drehte Annas Hände grob hin und her.
„Sauber, wenigstens etwas. Kannst du schnell nähen?“
„Ich …“
„Wie auch immer - der Stapel da hinten. Das muss alles umsäumt werden. Essen bekommst du nicht. Evphemia sagt, du willst lieber mehr Lohn. Ist mir recht, kannst du länger arbeiten.“
Anna schluckte und linste zu dem riesigen Haufen Weißwäsche hinüber. Sie hasste das Umsäumen, es war eintönig, und ihr schmerzten dabei schon bald die Augen. Hätte sie wenigstens die erfreuliche Aussicht auf eine Mahlzeit gehabt! Ganz offensichtlich wollte Evphemia so viel wie möglich aus ihr herauspressen, um es dann diesem versoffenen Dreckskerl zu geben. Zurzeit, da sie wieder schwanger war, versuchte sie ihn so gut wie möglich bei Laune zu halten, damit er sie seltener schlug. Anna hatte durchaus Verständnis dafür, trotzdem war sie enttäuscht. Das Schüsselchen Brei am Morgen und die Suppe am Abend reichten nicht, um satt zu werden. Vielleicht entdeckte sie auf dem Rückweg von der Arbeit in der Färbergasse wenigstens irgendwo Wegebäume, an denen im Spätherbst zuweilen noch Äpfel hingen. Seufzend nahm sie ein Betttuch von dem hohen Stapel, breitete es auf den Knien aus und begann mit der ungeschickten Rechten zu nähen.
Verhängnisvolles Geheimnis
Obwohl sie immer noch davon träumte, aus bunten Stoffen Kleider zu schneidern, hatte Anna auch an diesem Tag ihre Pflicht als Näherin in der Färbergasse ohne Murren erfüllt. Trotz der kargen Kost war sie in den letzten zwei Sommern ein gutes Stück gewachsen und überragte Evphemia um eine Handbreit. Der zarte Duft in der milden Frühlingsluft und das erste Grün der Zweige beflügelten sie, und sie summte fröhlich vor sich hin. Sie mochte den Samstag, auch wenn sie ihren gesamten Lohn abliefern musste, sobald sie nach Hause kam. Bevor die Tante ihrem Mann das Geld gab, schickte sie Anna mit einer Münze zu den Nachbarn zum Milchholen. Für eine eigene Ziege oder gar eine Kuh hatte es nie gereicht.
Marie wartete schon im Hof, denn der Ausflug mit Anna war für sie der Höhepunkt der Woche. Immer noch zart, war auch sie ein ganzes Stück in die Länge geschossen und reichte Anna bis zur Brust.
„Marie! Ich komm gleich zu dir, ich gebe nur den Lohn ab!“, rief Anna.
„Spute dich, es ist so herrlich an der frischen Luft!“, antwortete Marie.
Die Haustür stand weit offen - eine der wenigen Neuerungen, die Anna im Lauf der letzten Jahre hatte durchsetzen können: Bei trockenem Wetter wurde die Haustür nicht geschlossen, und die Vorhänge wurden beiseitegeschoben. Zumindest schimmelte es nicht mehr so stark in den Kammern, obwohl das Wasser nach wie vor vom Boden in die Hausbohlen zog und jeden Herbst alles voller grüner Ränder war.
Evphemia saß am Feuer. Das letzte Kind hatte sie verloren, aber inzwischen war sie wieder in Erwartung. Die neue Schwangerschaft hatte sie schon zwei Zähne gekostet, das dünne Haar klebte ihr an den Seiten des ausgemergelten Gesichtes fest. Meist lag sie, und nur zum Essenkochen erhob sie sich vom Podest. Zum Schlafen zog die Tante sich, seit sie hochschwanger war, in Maries Kammer zurück. Maffrit hatte erst getobt, aber als sie ihn angefleht hatte, ihr kein weiteres blindes oder dummes Balg zu bescheren, indem er ihr beiwohnte, hatte er murrend nachgegeben.
Die Ärmel hochgekrempelt, rührte Evphemia im Kessel. Die mageren Arme bildeten einen scharfen Gegensatz zu dem aufgetriebenen Leib, der zeigte, wie kurz die Niederkunft bevorstand. Anna hoffte, dass es bald so weit war; sie ertrug es nicht länger, mit den anderen auf dem engen Podest zu schlafen und Maffrits und Vors’ Schnarchen ertragen zu müssen. Außerdem
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