Die Gewandschneiderin (German Edition)
fürchtete sie die Blicke, mit denen der Onkel sie musterte, wenn sie sich morgens anzog. Er erinnerte sie dann an Gilbert. Ihr einziger Trost war Marie, mit der sie nachts reden konnte.
„Hier, der Lohn“, sagte Anna.
„Gib schon her!“, schnaufte Evphemia. Umständlich schob sie die Münzen in ihre Kitteltasche, bis auf eine, die sie Anna gönnerhaft in die Hand drückte.
„Da. Geh Milch holen.“
Wortlos nahm Anna den Krug. Lieber biss sie sich auf die Zunge, als der Tante dafür zu danken, dass sie einen winzigen Anteil ihres Lohnes für Milch ausgeben durfte, die sie noch dazu mit allen teilen musste. Sie trat aus der Tür in die Sonne des frühen Nachmittags und lächelte.
„Marie! Lass uns gehen!“
Im Hof sprang Marie wie ein Rehkitz einmal nach rechts und einmal nach links, lachend, die Arme ausgestreckt, um nicht gegen den Baum zu stoßen, der nach wie vor ihr Platz war, auch wenn sie seit dem letzten Winter nicht mehr dort angepflockt wurde.
Marie hatte vor Lichtmess einen schlimmen Sturmtag lang am Boden liegend in der Kälte ausgeharrt. Erst als Anna aus der Färbergasse gekommen war und sie ins Haus getragen hatte, hatten die anderen gemerkt, wie krank das Kind war. Über zwei Wochen lang hatte Anna gefürchtet, dass Marie starb. Doch allmählich war es der Kranken wieder so gut gegangen, dass sie einige Schritte hatte umhergehen können.
Anna war von Evphemia beschimpft und von Maffrit geschlagen worden, aber sie hatte Marie stets wieder losgebunden, wenn einer sie draußen festgemacht hatte. Es störte Anna nicht, dass Marie trotzdem am Baum stand, weil sie daran gewöhnt war. Ihr reichte der Gedanke, dass die Kleine ins Warme konnte, wenn sie es wollte, ohne dass man sie fürs Losknüpfen wieder schlug. Schließlich hatten sich alle daran gewöhnt, dass das Mädchen auch tagsüber durchs Haus tappte und sich am Feuer wärmte.
Anna nahm Marie bei der Hand und machte sich auf den Weg. Vertrauensvoll schloss die Blinde die Augen und streckte das Gesicht der warmen Frühlingssonne entgegen. Der Weg zum Nachbarn flussabwärts war an diesem Tag in kürzester Zeit zurückgelegt. Die Milch war schnell geholt, und alles in Anna sträubte sich, schon sofort wieder zu Evphemia zurückzukehren.
„Lass uns ein Weilchen rasten, Marie!“
„Ich bin nicht müde, ich kann noch gehen.“
„Ich weiß, aber es ist gerade so schön hier. Oder sehnst du dich nach Hause zurück?“
„O nein!“, rief Marie so empört, dass Anna lachen musste.
Das Mädchen stimmte mit ein, hob die Nase und schnupperte. „Ich mag den Frühling, er ist warm und riecht gut.“
Anna setzte den Krug an einer ebenen Stelle ab und ließ sich im warmen Gras nieder. Sie zog Marie zu sich herunter und seufzte. „Ach, wäre jeder Tag doch so wie dieser!“
„Warum?“, fragte Marie.
„Ich hasse die Arbeit in der Färbergasse. Es stinkt und ist zum Sterben langweilig.“
„Aber du musst arbeiten. Jeder muss arbeiten - außer Krüppeln wie mir.“ Die Stille nach diesen Worten schmerzte Anna in den Ohren, aber sie wollte sich den schönen Tag nicht mit trüben Gedanken verderben, und bald lagen sie auf dem Rücken im Gras, umsummt vom ersten emsigem Getier des Jahres.
„Anna?“
„Hm?“
„Könnte ich doch die Wolken sehen, von denen du mir immer erzählst. Sind gerade welche am Himmel?“, fragte Marie.
Anna blickte in das Blau hinauf. Zarte Haufenwölkchen schwebten ruhig durch das Blau.
„ Ich sehe ganz viele.“ Noch während sie sprach, merkte sie, wie traurig ihre Stimme klang.
„Was hast du?“
„Es ist nur so … ich weiß gar nicht, wo das alles hinführen soll. Ich bin schon fast zu alt, um bei euch zu leben.“ Sie stockte. Sollte sie Marie von Maffrits Blicken erzählen? Nein, sie war noch zu klein. “Aber ich will auch keinen Mann.“
„Hast du Angst?“, fragte Marie.
Anna horchte in sich hinein. Ja, genau das war es. Sie hatte Angst. Angst vor Maffrit, Angst davor, für immer in der Färbergasse Laken säumen zu müssen, keine bunten Stoffe zu schwingenden Gewändern schneidern zu dürfen. Aber auch Angst davor, wegzugehen und Marie dem bösartigen Vater zu überlassen. Eigentlich hatte sie vor allem Angst.
„Ja, ich habe Angst.“
Marie fragte nicht, wovor, und Anna war ihr dankbar dafür.
„Ach, Anna.“ Marie tastete nach ihrer Hand, bevor sie weitersprach. “Ich hatte auch Angst, als ich klein war, aber das geht vorbei. Eines Tages wirst du ganz woanders sein und in den Himmel
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