Die Gewandschneiderin (German Edition)
Maffrit.
„Lass Marie in Frieden!,“ zischte sie böse.
„Halt dich da raus, sonst geht´s dir wie dem Hund, wenn ich mit dem Krüppel fertig bin …“, drohte Maffrit.
Anna ließ sich nicht einschüchtern, diesmal nicht. „Bleib stehen, sage ich!“
Keuchend holte der Onkel aus. „Glaubst du, von dir …“ Betrunken, wie er war, schlug er zwar mit großer Wucht, aber zu langsam zu.
Als die Faust auf sie zuflog, drosch Anna den Stock mit aller Kraft gegen Maffrits Hand. Verwirrt starrte er auf die schmerzende Stelle, schnaubte wütend und hob den Arm erneut. Sie zog ihm den Knüppel ein zweites Mal über die Finger.
„Verdammt, was …? Miststück!“
Maffrit glotzte Anna an, als sähe er sie zum ersten Mal. Inzwischen war sie genauso groß wie ihr Onkel. Auch wenn sie seine Körperfülle nicht erreichte, hatte sie doch die breiten Schultern ihres Vaters geerbt.
„Wag nicht, Marie anzurühren! Damit ist endgültig Schluss!“, fauchte Anna.
Maffrit starrte sie immer noch an. Worauf wartete er? Darauf, dass sie die Augen niederschlug? Doch Anna hielt dem Starren stand. Der ganze Schmerz, der ganze Hass, alles, was sich während der letzten beiden Jahre in ihr angesammelt hatte, lag in ihrem Blick. Sie würde kämpfen, bis er Marie und den Hund in Ruhe ließ oder bis er es schaffte, sie totzuschlagen - aber sie würde es ihm nicht leicht machen.
Doch zu ihrem Erstaunen drehte Maffrit ab wie ein Wolf, der den Schwanz einkneift.
„Sie kann dich nicht immer beschützen, sie muss zur Arbeit. Und wenn ich dich und den Köter allein erwische, wirst du was erleben“, bedrohte er Marie.
Er spuckte auf den Boden, stürmte zum Tisch, griff nach seinem Würfelbecher und rannte aus dem Haus. Das Knarren der Tür fiel mit Maries erleichterten Schluchzern zusammen.
„O Gott, ich dachte wirklich, er macht ihn tot. Bär, wo steckst du? Wo bist du denn?“
Anne entdeckte den Welpen in der Ecke, hob ihn hoch und betrachtete entsetzt ihre blutbesudelte Hand. Bär war verletzt! Schnell fand sie die Ursache: Eine seiner Krallen war abgerissen. Vorsichtig reichte sie Marie das winselnde Hündchen.
„O Anna, ich hab solche Angst! Kannst du uns morgen nicht mitnehmen zum Nähen? Ich bin auch ganz still!“, flehte Marie.
Rings um Anna drehte sich alles. Marie und der Hund in der Färbergasse? Wie sollte sie nähen und dabei auf einen tapsigen Welpen und eine Blinde aufpassen? Und was würde ihre Meisterin dazu sagen? Sie seufzte. Das ginge nie im Leben gut.
„Unmöglich. Kannst du nicht irgendwo anders Unterschlupf finden?“
Marie blieb stumm. Herrje, was redete sie nur? Sie hatte in den letzten Jahren doch wahrlich miterlebt, dass niemand den Mut besaß, sich Maffrit in den Weg zu stellen. Der Einzige wäre Vors gewesen, doch der erwies sich inzwischen als genauso brutal wie sein Vater und war mindestens ebenso oft betrunken.
Konnte Anna nicht einfach verschwinden und Marie und Bär mitnehmen? Sie straffte den Rücken und fasste Marie an beiden Schultern. „Marie, kannst du dir vorstellen, ohne deine Mutter zu leben?“, fragte sie leise.
„Todsicher“, antwortete Marie ohne Zögern und tastete vorsichtig nach Bärs Wunde.
„Marie, lass uns auf und davon gehen, du und ich. Was meinst du?“
Jauchzend sprang Marie in die Höhe und ließ den Hund dabei zu Boden gleiten. Bär jaulte und flitzte erschrocken in die Diele hinaus. Mit ausgestreckten Händen lief Marie auf Anna zu. Als sie die Freundin erfühlt hatte, umschlang sie sie mit den Armen und drückte sie an sich.
„Endlich!“, rief sie leidenschaftlich aus. „Mein ganzes Leben warte ich schon darauf, dass mich jemand von hier fortholt!“
Sie fragte nicht nach Essen, Geld oder Schlafplatz, Marie wollte einfach nur weg.
„Warte auf der Treppe - vielleicht ist er noch draußen. Ich hole nur rasch meine Bündel!“, rief Anna.
„Weg, weg, weg! Wir gehen weg …“, sang Marie und tastete sich zur Tür, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht.
„Marie, hörst du? Warte auf der Treppe!“
„Ist gut.“
Marie tappte zur Wand und tastete sich daran entlang zum Ausgang, wie sie es immer tat. Anna steckte den Stock in die Schlaufe am Kleid und eilte den Flur entlang. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Wohin sollte sie mit den beiden? Doch es war zu spät. Wenn Maffrit Marie allein erwischte, würde er keine Gnade kennen. Anna stürmte in die Kammer und ergriff ihre Bündel. Jetzt war sie heilfroh über die lieb gewonnene Angewohnheit,
Weitere Kostenlose Bücher