Die Gewandschneiderin (German Edition)
jeden Tag zu packen, obwohl ihr längst klar geworden war, dass Wulf sie nie mehr abholen würde.
In der äußersten Ecke der Diele entdeckte sie den zitternden Welpen. Anna nahm ihn hoch und eilte zum Ausgang. Ohne einen Blick zurück öffnete sie die knarrende Tür. Das helle Sonntagslicht blendete ihre Augen.
Wo war Marie? Sie stand nicht auf der Treppe. Der Lärm der Krähen war unbeschreiblich. Da keuchte sie vor Entsetzen auf: Maffrit stand noch im Hof! Doch der Hüne beachtete seine Umgebung nicht. Er riss an den Zügeln des Kutschgauls, damit sich das scheuende Tier vor den Wagen spannen ließ. Endlich sah Anna Marie zwischen sich und Maffrit an ihrem Pflock stehen.
„Marie!“, rief Anna gedämpft - Maffrit sollte sie nicht bemerken. Doch auch Marie hörte Anna bei dem Vogellärm nicht.
Nun schrie der Fuhrmann das Pferd so laut an, dass er sogar die kreischenden Krähen übertönte. „Scheißgaul, wirst du wohl …?“ Wutentbrannt riss er erneut am Zügel, und das Pferd warf ängstlich wiehernd den Kopf hoch. Es scheute abermals, brach zur Seite hin aus und bockte halb von Sinnen um den Wagen herum. Maffrit zerrte es am Zügel zu sich heran. Vorn festgehalten, trat der Gaul nun mit aller Wucht mit beiden Hufen nach hinten aus - und traf Marie an der Brust.
Die Zeit schien langsamer als sonst zu verstreichen. Fast kam es Anna so vor, als sähe sie einzelne Bilder wie auf den Heiligentafeln in der Kirche vor sich. Maries Gesicht, erschrocken verzogen wie das von Johann, ihr schmaler Körper, der sich erst nach hinten durchbog, weil Kopf und Beine langsamer waren als die Brust, die das Pferd getroffen hatte, und sich dann wieder gerade schob, als Marie mit voller Wucht gegen den Baum - ihren Baum! - krachte. Stockend, wie eine schmelzende Schneehaube im Frühjahr, rutschte sie am Stamm entlang nach unten.
„Mariiiiee!“
Anna hatte so laut geschrien, dass die Krähen auf einen Schlag verstummten und abdrehten. Sie rannte zum Baum, setzte den Hund ab und ließ ihre Bündel fallen.
Marie hatte die Augen geschlossen, das Gesichtchen war blass, aber sie lebte. Anna sah, wie der Atem die Brust hob und senkte.
„Marie!“
Sie bettete den Kopf der kleinen Freundin im Schoß und scherte sich nicht um Maffrit, zog auch nicht den Stock aus der Schlaufe. Sollte er sie doch von hinten erschlagen - es war ihr gleichgültig.
„Marie!“
„Anna …“, hauchte Marie. Sie hustete, und kleine Blasen in der Farbe von Rübenwasser sprühten ihr aus dem Mund.
„Marie, wo tut es weh? Kann ich etwas tun?“, fragte Anna.
„Es ist gut. Ich wollte sowieso gehen.“
Anna schluckte, und Tränen schossen ihr aus den Augen.
„Sag doch so etwas nicht! Wir pflegen dich wie damals, als du krank warst. Ich gehe solange nicht zur Arbeit, ich passe auf dich auf, hörst du?“
Marie wirkte so winzig, als wäre sie seit dem ersten Tag am Pflock keinen Zoll gewachsen. Sie schloss die Augen.
„Marie? Marie!“ Anna brach der Angstschweiß aus allen Poren.
Zögernd und unendlich müde hob Marie die Lider. „Hab keine Angst, denk an die Wolken.“ Sie hechelte, und ein seltsames Röcheln drang aus ihrer Brust. „Irgendwann wirst du die Wolken sehen und keine Angst mehr haben.“ Sie hustete, und diesmal drang ihr ein Schwall rosigen Schaumes aus dem Mund. Keuchend versuchte sie weiterzusprechen, während ihr Anna unentwegt über die Stirn strich.
„Und dann wirst du an mich denken. Ich …“ Sie hustete wieder und schloss vor Anstrengung die Augen, und diesmal schien der Anfall kein Ende zu nehmen. Plötzlich war der Husten vorbei. Anna wartete, dass die Kleine weitersprach, aber sie schwieg. Nur die Last in Annas Armbeuge wurde schwerer und schwerer. Dann fiel der Kopf zur Seite.
„Marie!“
Erst ein gequälter Schrei, der gleichzeitig aus einer Kehle wie auch aus tiefster Seele zu kommen schien, weckte Anna aus ihrer Starre.
Evphemia war neben Anna niedergekniet und riss ihr den zarten Körper aus den Armen. Ihr Leib war durch die Schwangerschaft so geschwollen, dass sie nur den Oberkörper des toten Mädchens auf dem Schoß zu halten vermochte. Evphemia wiegte ihre Tochter, wie sie selbst in guten Zeiten nicht einmal den kleinen Ivo gewiegt hatte.
Anna schaute auf die Leere in ihrem Schoß. Da, wo Marie gerade noch gelegen hatte, war eine kleine Mulde entstanden. Bär stieß Anna mit der Nase an und winselte. Die Wunde an der Pfote war voller Staub – sie hätte ihn nicht hinuntersetzen sollen vorhin. Bevor
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