Die Gewandschneiderin (German Edition)
lange sie schon so heftig zitterte, wusste Anna nicht, aber es musste angefangen haben, bevor die Sonne untergegangen war.
Es war angenehm, Bärs warmen Körper auf dem Schoß zu spüren, wenigstens gab es so eine warme Stelle an ihrem Leib. Wann hatte er zu ihr zurückgefunden? Der blasse Mond lugte höhnisch zwischen den schwarzen Wolken hervor, als sei ihm alles Irdische da unten einerlei. Langsam tauchten andere Bilder auf und verscheuchten die Erinnerung an Maries Unfall, die Anna im Geist immer wieder angefallen hatten wie hungrige Ratten. Das warme Feuer, die Suppe und das duftende Brot aus Tankreds Korb tauchten vor ihrem inneren Auge auf und erinnerten sie daran, dass seit dem Verzehr der Pastete schon eine Weile vergangen sein musste.
Tankred! Siedend heiß schoss ihr in den Sinn, was sie seit dem Schwinden des Lichtes am Rand ihres Bewusstseins beschäftigt hatte, ohne ihre Trauer durchdringen zu können. Sie hatte die Verabredung verpasst! Steifbeinig erhob Anna sich und ging auf die Baumgruppe zu, bis sie endlich wieder unter den schützenden Zweigen war. Diesmal band sie den Hund fest, bevor sie sich setzte. Hier war sie vor dem Wind geschützt, und es regnete nicht herein. Trotzdem hätte sie viel um ein wärmendes Feuer gegeben. Sie fütterte Bär mit einem Brotrest und blieb untätig sitzen. Was hätte sie sonst tun sollen?
Sie war wohl doch eingeschlafen, denn als sie die Augen öffnete, lag sie auf der Seite, und es war hell. Bär hatte sich zusammengerollt und spendete wie immer wohlige Wärme. Gewachsen war er, der kleine Kerl! Liebevoll kraulte sie ihm die Ohren. Was war nur geschehen am Tag zuvor? Sie konnte sich kaum erinnern. Stoff … sie hatte Stoff gekauft, und dann hatte es geregnet und …
Plötzlich war alles wieder da. Anna zitterte. Tankred war inzwischen weit fort. Was sollte sie tun? Was hätte ihr Vater getan? Fast meinte sie, seine Stimme zu hören.
Es ist ganz einfach, Anna. Setz einen Fuß vor den anderen …
Bär jaulte. Sicher war er durstig, genau wie sie. Sie seufzte erleichtert. Wer schrieb ihr denn vor, dass sie eine Entscheidung fürs ganze Leben treffen musste? Sie konnte doch erst einmal die wichtigsten Aufgaben in Angriff nehmen. Also gab sie sich einen Ruck, nahm den Hund an die Leine und wollte sich zum Fluss aufmachen. Doch wohin mit ihrer Habe? Elenas Mutter war sicher nicht der einzige Mensch, der in der Umgebung der Bäume lebte. Was, wenn jemand ihre Schätze fand und mitnahm? Sollte sie alles zum Fluss schleppen und wieder zurücktragen? Wie sehr hatte sie sich am Tag zuvor mit ihrer Bürde abgemüht! Bär winselte und kratzte an einer Wurzel, er hatte Hunger. Der Hund brachte sie auf einen Gedanken: Sie würde den Stoffballen vergraben! Umhüllt von dem schützenden Wachstuch, nähme er bestimmt keinen Schaden. Anna suchte sich einen Platz am Rand der kleinen Lichtung, an der ihr Unterschlupf stand, und ging in die Hocke. Mit einer Hand hob sie die Erde aus; sie war locker und weich. Die Stelle war hervorragend geeignet, zumal auch hier Zweige als Regenschutz darüberhingen. Mit beiden Händen grub sie ein tiefes Loch unter den Sträuchern. Endlich war die Arbeit getan. Sie erhob sich mit steifen Knien und klopfte die Hände am Rock ab. Die Vertiefung erwies sich als recht groß, sodass der Platz sogar für eine zweite Rolle gereicht hätte. Eine Falte trat zwischen Annas Brauen, sie musste nachdenken.
Was, wenn sie einfach alles vergrub, was sie nicht brauchte? Dann konnte sie unbeschwert zur Siedlung gehen und sich etwas zu essen besorgen. Ihr Entschluss stand fest - so würde sie es machen. Vorsichtig wickelte sie die endlosen Lagen gewachsten Tuches auseinander und legte ihre beiden Beutel dazu. Nur das kleine Behältnis mit dem Zunder und dem ledernen Wasserschlauch behielt sie zurück. Sollte sie auch den Leibgurt ablegen? Aber das schien ihr schließlich doch zu leichtsinnig, und bei ihr war er sicherer. Sie hatte das Tuch schon zugeschlagen, als ihr etwas einfiel. In einem der Beutel musste noch ein Stückchen Speck stecken! Mit flinken Fingern holte sie das willkommene Mahl hervor und schob den fettigen Streifen zwischen die Zähne. Bär sprang an ihr hoch, um an ihren Mund zu gelangen.
„Lasch dasch!“, nuschelte Anna.
Während sie die Erde wieder auf das Loch schob und alles mit altem Laub bedeckte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie musste sich unbedingt mit Lebensmitteln eindecken.
Die Morgensonne täuschte Wärme vor, aber
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