Die Gewandschneiderin (German Edition)
dachte schon, es wär was mit dir. Dass du wegwillst oder so."
"Warum sollte ich wegwollen?" , fragte Anna.
"Na, der Meister ist streng, Dietrich ein Ekel und Wiffi ..."
Nun lachten beide. Anna nahm ein Stück Stoff in wunderbarem Violett zur Hand und hielt es ihm hin.
"Solange es genug Tuch wie dieses gibt, bekommt mich hier keiner weg - nicht mal Wiffi."
Wiffi rumpelte schon eine geraume Weile im Flur herum. Jedes Geräusch löste in Annas Kopf dröhnende Wellen aus. Wie so oft hatte der ekelhafte Geruch sich als schneidender Schmerz in ihren Kopf und Leib gebohrt. An einem besonders heißen Tag hatte es so gestunken, dass sie sich erbrochen hatte. Wie konnten die anderen nur in aller Ruhe arbeiten? Vielleicht ginge es ihr besser, wenn sie ihren freien Tag zum Ausgehen nutzte, aber sie fühlte sich innerhalb des Hauses einfach sicherer. Sie arbeitete zwar schon eine ganze Weile bei Meister Spierl, aber möglicherweise hielt sich Heinz noch immer in der Nähe auf und suchte sie.
Es r umpelte abermals ohrenbetäubend. Anna zuckte zusammen und konnte gerade noch verhindern, dass das schwere Gewand mit den langen Tütenärmeln zu Boden rutschte. Wie es wohl fertig aussähe? Sie konnte es kaum erwarten, den letzten Stich auszuführen. Ob sie sich während der Anprobe unter einem Vorwand in den Verkaufsraum schleichen sollte?
Und ausgerechnet an diesem Tag, an dem die Gesellen frei hatten und der Meister bei Kunden zum Messen und Ausliefern war, machte Wiffi solch einen Lärm. Es gab kaum Gelegenheiten, bei denen Anna ungestört mit der Linken arbeiten konnte. Sie brauchte die Zeit, es war Neumond, und sie konnte nachts nur arbeiten, wenn sie ein Talglicht aus der Küche stahl. Bei jedem Streit, den der Meister mit Wiffi wegen ihrer Verschwendungssucht vom Zaun brach, überkam Anna ein schlechtes Gewissen. Wenn die Alte doch nur still wäre, damit sie diese verdeckte Naht zu Ende bringen konnte! Sicher räumte sie wieder frische Vorräte in den unteren Stock. Es half nichts, so konnte sie nicht arbeiten.
"Soll ich dir helfen?" , fragte Anna, und Wiffi fuhr zusammen.
" Wobei helfen?" Sie stellte sich vor die Säcke, Körbe und Packen.
Anna deutete auf die Waren. „Dabei.“
"Ach so - die paar Sachen. Nein, das ist schnell gemacht. Hast du nichts zu tun?"
"Ich kann nicht arbeiten bei dem Lärm."
"Hm. Dann lern es und verschwinde!“ Wie ein Biber, der seinen Bau verteidigt, starrte Wiffi Anna von unten aus mit ihren kleinen Augen an. „Und jetzt geh weg von der Treppe! Geh schon!", fauchte sie.
Anna hob die Schultern und machte kehrt. Dann eben nicht.
Gerade hatte sie sich das große Nähstück mühsam wieder zurechtgelegt, als aus dem Rumpeln ein Poltern wurde. Sie schrak zusammen, stach sich mit der Nadel und riss versehentlich an der halb fertigen Naht. Das Garn war fester als der Stoff, und so bildeten sich hässliche Zerrlöcher. Ob sich das beheben ließ? Der Stoff fühlte sich teuer an.
Anna stampfte auf den Boden , dass es staubte. „Still, verdammtes Weib!“, stieß sie hervor. Sie horchte. Nichts. Ihr Wunsch war erhört worden, friedliche Stille lag über dem Haus.
Stich um Stich reihte sich aneinander, die Zerrlöcher verschwanden durch geschicktes Verschieben der Naht. Anna lauschte und hielt mit dem Nähen inne. So still war Wiffi sonst doch nie! Die Tür hatte nicht geklappt, die Treppe nicht gerumpelt, also war sie noch im Haus. Anna ließ die Nadel sinken. Das Kleid rutschte zu Boden, aber sie beachtete es nicht. Diese Stille konnte nur eines bedeuten: Wiffi hatte sich etwas getan.
Die Treppe ins düstere Erdgeschoss schien ins Bodenlose zu führen. Anna hielt sich den Ärmel vor die Nase. Selbst der Geruch schien sagen zu wollen, dass sie hier nichts zu suchen hatte.
„Wiffi?“
Keine Antwort.
Sie musste es lauter versuchen. Aber was, wenn die Alte nicht gestürzt war , sondern sie nur nicht hörte? Sie würde ihr für ihre Neugier die Hölle heiß machen. Dann entdeckte Anna etwas, das ihre Bedenken zu feinem Staub zerrieb und sie die Treppe hinunterjagte: Auf einer der mittleren Treppenstufen lag ein ausgetretener, schmutziger Schuh. Und der gehörte eindeutig Wiffi.
So wie sich Wiffi außerhalb des kleinen Lichtkegels der Wandfackel auf dem Boden krümmte, war sie offenbar von ganz oben heruntergestürzt. „Wiffi, o mein Gott!“ Die Alte antwortete nicht. Hastig beugte Anna sich über sie. Warum war es hier nur so düster? Blut lief der Alten aus der Nase, und der
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