Die Gewandschneiderin (German Edition)
Gestank war schier unerträglich. Ein Fuß sah dicker aus als der andere, aber sonst war nichts zu erkennen. Vorsichtig schlug Anna der Verletzten mit der flachen Hand auf beide Wangen.
„Wiffi ! Wiffi!“
Die Alte regte sich, stöhnte und riss die Augen auf.
„Was hast du hier zu ...“ Weiter kam sie nicht, denn als Nächstes erbrach sie sich. Nun gab es auch für Anna kein Halten mehr, sie spuckte, bis sie innerlich leer zu sein schien.
„Was ist geschehen? Mein Bein tut weh!“, jammerte Wiffi.
„Das glaub e ich dir sofort, der Fuß ist ganz dick. Du bist die Treppe heruntergefallen. Vermutlich.“
Wiffi seufzte tief. „Hilf mir nach oben! Wenn der Meister dich hier findet, haut er die Rute auf uns beiden entzwei.“
Es war eine elende Schinderei, die Alte die steile Treppe hinaufzubekommen. Doch schließlich lag sie auf der schmalen Küchenbank, den dick angeschwollenen Fuß auf einem Polster. Mit einem Küchentuch reinigte Anna ihr das Gesicht. Als das Blut entfernt war, sah sie es deutlich. Die Nase war schief und hatte einen blauroten Höcker, aber vermutlich machte sich Wiffi nicht allzu viel aus ihrem Aussehen.
Um ein Haar wäre Anna in lautes Gekicher ausgebrochen.
„O nein!“
Wiffi wollte aufstehen.
Anna drückte sie an den Schultern auf die Bank zurück.
„Was soll das? Bleib ruhig liegen!“
„Wenn der Meister nach Hause kommt, muss der Dreck unten weggeräumt sein. Er schimpft schon so immer, dass wir die Kunden vertreiben. Aber es ist seine Schuld, das habe ich ihm auch gesagt.“ Sie bewegte den Fuß auf dem Kissen und stöhnte. „Nichts wegschmeißen, Wiffi, sei sparsam, Wiffi, das kann man alles noch gebrauchen, Wiffi ...“ Sie äffte die hohe Stimme so echt nach, dass Anna sich vorsichtig umwandte. Nichts. Aber es war auch nicht zu erwarten, dass Spierl vor dem Essen nach Hause kam.
„Ich erledige das“, sagte Anna.
„Du darfst da nicht hinunter.“
„Ist mir einerlei. Wenn er wütend wird, sag einfach, du warst bewusstlos.“
„Was, wenn er gleich kommt? Er wird toben, weil ich gefallen bin. Bestimmt wirft er mich hinaus, wenn ich nicht laufen kann.“
Anna durchfuhr ein eisiger Schreck. An die Möglichkeit , des Hauses verwiesen zu werden, hatte sie nicht gedacht. Hätte sie ihre Hilfe doch bloß nicht angeboten! Doch nun war es zu spät. In Wiffis Biberaugen entdeckte sie die gleiche Furcht, die auch in ihr aufstieg.
Die Magd nickte. „Gut, du hast verstanden. Spute dich, damit er dich nicht erwischt.“
„Wiffi. Wiiffi! Wo bleibst du denn, du nutzloses Weib?“
Anna hatte sich umsonst gesorgt. Wie der Wind war sie durch das untere Stockwerk gefegt, hatte sich nach Putzzeug, Eimer, Sand und Schaufel umgesehen. Einen Vorteil hatte die Sucherei gehabt: Endlich entdeckte sie die Ursache des Gestanks. Das untere Stockwerk barst schier vor Regalen. Und diese Regale waren mit Vorräten vollgestopft. Etliches sah gut aus und war gewiss noch frisch, Gedörrtes und Geräuchertes, Getreide und sogar Salz in großen Kisten. Anderes war verdorben und ungenießbar, Kohl und Rüben glitschten in Kisten herum, aus denen modrige Rinnsale über den Boden liefen. Lageräpfel aus dem letzten oder gar vorletzten Jahr faulten vor sich hin, weiß gepunktet oder zu braunem Brei zerfallen. Nun, da sie wusste, woher der allgegenwärtige Gestank kam, ließ er sich erstaunlicherweise leichter ertragen.
Als Anna endlich alles gesäubert hatte und die Treppe wieder hinaufgestiegen war, bot sich ihr in der Küche ein seltsamer Anblick. Wiffi saß aufrecht, kreidebleich und flüsterte beständig vor sich hin. „Nein, er wirft dich nicht hinaus, das tut er nicht. Er wirft dich nicht hinaus ...“
Erst als Spierls Rufe zu hören waren, begriff Anna, dass er sie überhaupt nicht hätte ertappen können. Wer sich im Haus aufhielt, hatte die Anweisung, die Treppe heraufzuziehen, bis der Meister sich bemerkbar machte. Er wäre also gar nicht allein hereingekommen.
„Wo steckt Wiffi? Was machst du dir an der Tür zu schaffen?“
Meister Spierl wirkte schlecht gelaunt , einen der Packen vom Morgen trug er noch immer unter dem Arm.
"Dietrich soll mir nicht unter die Augen kommen. Das falsche Garn hat er genommen. Jetzt will sie das Gewand nicht. Den Hals werde ich ihm umdrehen, dem Pfuscher!"
Meister Spierl redete sich in Zorn - so aufgebracht hatte Anna ihn selten erlebt. Finster starrte er Anna an.
"Ich hoffe, we nigstens du hast etwas geschafft heute Vormittag."
Anna ließ die
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