Die Gewandschneiderin (German Edition)
er gedehnt.
"Jemand muss sich darum kümmern. Der Gestank ist nicht auszuhalten" , erklärte Anna.
"Wiffi kann das erledigen, sobald sie wieder auf den Beinen ist."
Er starrte sie böse an. Wiffi hatte sie gewarnt. Sie versuchte es trotzdem noch einmal.
"Die Kunden haben es auch schon bemerkt, sie beschweren sich. Gestern ist eine Frau wieder gegangen."
Meister Spierl wiegte den Kopf hin und her.
"Selbst wenn du recht hast, ich habe zu viel zu tun. Ich kann mich darum nicht auch noch kümmern. Und Jan und Dietrich lass ich dort nicht hinunter. Außerdem ist das Frauensache." Störrisch wie ein Kind verschränkte er die Arme vor der Brust. "Ich werde bestimmt keine Mäuse und Ratten verjagen.“ Er schüttelte sich. „Ich bin darin nicht gut. Und ich kann auch keine Rüben sortieren … oder was noch so herumliegt."
" Lasst es mich tun!"
Meister Spierl starrte sie an wie frisch gefallenen Schnee an einem Sommertag.
"Warum solltest du das tun?" , fragte er lauernd.
Anna blies sich eine Strä hne aus der Stirn und lächelte.
" Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Wiffi gerettet habe - aus Gutmütigkeit, denke ich", gab sie zurück.
Ein Leuchten überzog das faltige Gesicht des Gewandschneiders.
"Gutes Kind."
"Noch etwas ..."
"Was denn?"
"Bis Wiffi wieder kochen kann, übernehme ich diese Arbeit auch. Ihr müsst nur das Feuer unterhalten. Ich … ähm … darin bin ich nicht gut.“
Dietrich linste schon den ganzen Morgen immer wieder zu Anna herüber, dann rotzte er, als habe er einen schlechten Geschmack im Mund. Selbst Jan hatte sie schon zweimal dabei erwischt, wie er sie argwöhnisch beäugte. Empört schürzte sie die Lippen. So etwas von Undankbarkeit! Das Essen war nicht angebrannt, sondern recht schmackhaft, und es roch im Haus nicht einmal mehr halb so schlimm wie noch am letzten Sonntag.
Dietrichs Verhalten konnte sie sogar verstehen. Aber was hatte sie Jan getan?
W enn der Meister wie an diesem Tag zu Kunden unterwegs war, zeigte sich Dietrich ihr gegenüber von seiner übelsten Seite. Wo blieb Spierl überhaupt so lange? Sonst war er wenigstens zum Essen zurück, um für Ruhe zu sorgen. Ohne ein Wort waren beide Männer aufgestanden und überließen es Anna, den Tisch abzuräumen.
Die Schüsseln klapperten empört, als Anna sie aufeinanderwarf. Vielleicht hatte Wiffi recht, und die beiden waren eifersüchtig, weil sie das Erdgeschoss betreten durfte? Anna wischte sich die klebrigen Finger am Tischlumpen ab. Dietrich hatte wieder gegessen wie ein Schwein, seine Schüssel war außen genauso beschmiert wie innen.
Hätten die beiden gewusst, wie es da unten aussah, hätten sie ihr die Freiheit nicht geneidet. Vergammelte Rüben und Kohlköpfe, schimmeliges Brot und verdorbener Speck. Kiste um Kiste hatte sie nach oben geschleppt, geleert und mit Sand geschrubbt, bis sie mehr Splitter in den Fingerkuppen hatte als Narben von Nadelstichen. Eine der kleinen Wunden eiterte sogar. Zu allem Überfluss pflegte Wiffi oben am Treppenabsatz auf einem Schemel zu sitzen und sie zu beobachten - auch das war kein Honigschlecken. Anna spülte die Essensreste von den Fingern. Was genau genommen überflüssig war, denn unten im Vorratslager würden sie gleich wieder schmutzig.
Anna stieg über die Bretter mit fein gerechtem Sand, die sie ausgelegt hatte, um eindringender Mäuse gewahr zu werden, bevor sie sich vermehrten. Ganze Nester der Plagegeister hatte sie schon ausgehoben. Sie fröstelte, es war kalt hier unten. Die Regale zogen sich schier endlos an den Wänden entlang. Sie hatte erst die vorderen Reihen aufgeräumt und geputzt, denn hier war es durch die Fackel im Flur hell. Je tiefer sie in den hinteren Teil vordrang, umso dunkler wurde es, denn die Fenster im unteren Geschoss waren alle verrammelt. In der vorletzten Reihe hatte sie tags zuvor abbrechen müssen, nachdem sie die Hand nicht mehr vor Augen gesehen hatte. Sie brauchte Licht. Wiffi hatte sich gewehrt, aber schließlich hatte Anna ihr ein Talglicht abgeschwatzt. Das war das Mindeste. Keiner half ihr, und sie bekam genauso viel Näharbeit aufgetragen wie vorher. Aber was beschwerte sie sich? Sie hatte dem Meister angeboten, sich um alles zu kümmern, er hatte nichts gefordert. Sie seufzte.
Im hellen Schein de s Talglichtes traten die Vorräte in den hinteren Regalen so zutage, wie sie anfangs wohl gedacht gewesen waren. Ordentlich aufgereiht, sauber und duftend, lagerten hier frische Lebensmittel. Welch eine Auswahl - und in
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