Die Gewandschneiderin (German Edition)
Nähwerk in den Korb gelegt, und mit der Rechten war die Arbeitslast kaum zu bewältigen. Doch sie musste sich nicht ängstigen. Einen halben Korb voll ergab das Häuflein bei Weitem nicht. Behutsam schob Anna die frisch genähten Stücke zwischen die anderen; sie hatte mehr Zeit gehabt und ordentlicher genäht als am Tag zuvor, aber die Stiche waren längst nicht so gut gelungen wie die mit der Linken. Schnelle Schritte rissen sie aus ihren Gedanken.
"Meister!" Dietrich sprang auf und umkreiste Spierl wie ein Hund seinen Herrn. Der Alte, die Weidenrute in der Hand, warf seinen Umhang achtlos über einen Kleiderhaken und entrollte im nächsten Augenblick ein riesiges Pergament. Dietrich schob sich immer dichter an ihn heran.
"Ist das von de Vinea? Lasst doch sehen!" , forderte er. Meister Spierl rollte das Pergament wieder auf und schnaubte. Das Peitschen der Weidenrute zerschnitt die Spannung.
"Au!", schrie Dietrich, schlich an seinen Platz zurück und rieb sich die Hand.
Plötzlich stand der Gewandschneider neben Anna.
"Zeig deinen Korb !"
Anna kippte den Korb, und Spierl nickte. Erst nahm er die oberste Arbeit vom Stapel und begutachtete sie, dann eine zweite und eine dritte. Anna klopfte das Herz bis zum Hals. Hätte sie die mit rechts genähten Teile weiter nach unten schieben sollen? Doch Spierl schien zufrieden, er faltete die Stücke wieder zusammen und legte sie auf den Stapel.
"Du kannst bleiben. Lass dir von Wiffi ein Stück Brot zusätzlich geben. Und hinaus mit euch! Ich brauche Ruhe."
Wie lange saß sie schon im Gang und wartete, dass es mit der Arbeit weiterging? Was trieb der Alte da? Sie konnte Dietrichs Blicke nicht mehr ertragen und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Endlich öffnete sich die Tür zur Nähstube.
„Steht nicht so müßig herum, hinein mit euch!“
Jan ging voraus. Anna ließ Dietrich vorbei, der sorgfältig die Weidenrute im Blick behielt. Fast wäre Anna gegen Jan geprallt, der nicht zu seinem Platz gegangen war, sondern mit offenem Mund auf die Wand beim Eingang starrte. Auch Dietrich stand stumm, doch Meister Spierl lachte über das ganze faltige Gesicht.
„ Wenn das keine Vorlage ist! Und für jedes erdenkliche Maß eine eigene Knotenschnur, alle ordentlich mit Garn gekennzeichnet - auf dem Pergament und an der Schnur. Seht nur ...“
Der Meister hielt ein ganzes Büschel Schnüre in den verschiedensten Farben hoch, darunter solche, von deren Vorhandensein Anna bisher nichts geahnt hatte. Doch nicht die Farben hatten den Gesellen die Sprache verschlagen. Zwei mannslange Pergamentrollen hingen säuberlich in Holzleisten gerahmt an der Wand. Aber war das wirklich Pergament? Konnte Pergament so lang sein? Auf der einen Rolle war ein Mann, auf der anderen eine Frau abgebildet. Annas Blick wanderte vom rechten Fuß, den der Mann ein wenig vorgeschoben hatte, am Bein hinauf, die breiten Schultern entlang und über das kantige Kinn bis zu den Augen. Sie waren farbig angelegt – blau, um genau zu sein. Und der Farbton wich keinen Deut vom Blau ihres Kleides ab. Wer war dieser Mann? Mit Mühe riss sich Anna von der Betrachtung des Bildes los. Plötzlich fasste sie sich an die Stirn. Eine Krone, die vielen Schnüre, natürlich …
„Das ist der Kaiser!“ , entfuhr es ihr.
„Sicher, Närrin.“ Dietrich zeigte auf das andere Bild. „Und das da, das ist Isabella von England.“
Die anderen saßen schon um Wiffis Suppenkessel, doch Anna hatte sich mit dem Aufräumen ihres Nähzeugs viel Zeit gelassen. Nun stand sie wieder vor den Zeichnungen. Die gemalte Isabella war hübsch, das Gesicht zart, der Busen üppig. Auch sie trug eine kleine Krone, und sie hielt sich gerade, wie es sich gehörte. Doch der blaue Blick des Kaisers zog Anna derartig in Bann, als erlaube er ihr nicht, sich Isabella zuzuwenden. Sein Blick war so streng, als drohe sich die Welt aufzulösen, wenn ihr Kaiser sie nicht im Auge behielt. Majestätisch streckte er die Linke vor, auf der ein Falke saß. Doch der Arm wirkte irgendwie verkrampft - hielt sich der Falke am Herrn oder der Herr am Falken fest? Konnten Kaiser unglücklich sein?
„Hier steckst du also. Die Suppe wird kalt.“ Meister Spierl stand neben ihr, sie hatte ihn nicht bemerkt.
„Es tut mir leid, ich … das Pergament ist so …“
Spierl nickte. „Das liegt daran, dass es kei n Pergament ist. Man nennt es Papier.“
„Darf ich es anfassen?“
Meister Spierl zuckte zusammen und musterte sie argwöhnisch. Dann legte er
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