Die Gilde der Diebe
das Dachgeschoss für sich. Dabei schubsten und beschimpften sie sich die ganze Zeit über. Jonathan war erstaunt, wie lange und wie ausdauerndsie stritten. Sie hörten nur dann auf, sich gegenseitig zu beleidigen, wenn sie gerade nicht miteinander sprachen. Trotzdem ließen sie am frühen Morgen ihre Differenzen ruhen, begaben sich gemeinsam auf das Dach, wo sie Räder schlugen und über die Dachziegel turnten wie zwei biegsame Schatten vor der aufgehenden Sonne.
Nachdem Raquella das einzige Gästeschlafzimmer belegte, schlug Correlli sein Nachtlager auf dem Wohnzimmersofa auf. Er war wie ein gefangenes Tier, das deutlich sichtbar gegen den Drang ankämpfte, sich auf Mountebank zu stürzen. Stattdessen stürzte sich der Feuerschlucker auf die Planung des Einbruchs und verwandelte das Wohnzimmer vorübergehend in eine Kommandozentrale. An den Wänden hingen heimlich gemachte Fotos des Anwesens und detaillierte Stadtpläne, auf denen mögliche Fluchtrouten eingezeichnet waren. Nachts schlich Correlli sich alleine in den Garten und übte Feuerschlucken, um sich zu entspannen, und erleuchtete den Nachthimmel mit seinen Stichflammen.
Vielleicht war Mountebank sich der Gefahr bewusst, in der er schwebte, vielleicht wollte er aber nur vermeiden, wie Correlli behauptete, sich körperlich betätigen zu müssen. Er flüchtete sich in das sichere Arbeitszimmer und half Alain bei der Suche nach Informationen über Cornelius Xavier. Die beiden ergänzten sich auf seltsame Weise: Mountebank, der unbekümmert seine Füße auf einen Stapel Bücher legte und laut vorlas, und Alain, der sich wie ein Archäologe bei einerAusgrabung mit ernstem Gesicht über seine Bücher beugte.
»Dein Vater hat eine exzellente Bibliothek zusammengetragen«, sinnierte Mountebank. »Wie hat er es bloß geschafft, so viele Bücher mit Hinweisen auf Darkside zu finden?«
»Es hat ziemlich lange gedauert«, antwortete Jonathan schließlich.
Er wusste nicht genau, was er von dem Magier halten sollte. Nach Correllis Reaktion war er ihm gegenüber zunächst misstrauisch gewesen, aber abgesehen von gelegentlichen magischen Prahlereien und ausschweifenden Theateranekdoten erwies sich Mountebank als nachdenklicher und besonnener Zeitgenosse. Bei Besprechungen war er ruhig und rollte mühelos eine Münze über seine Knöchel vor und zurück. Hin und wieder ließ er zum Spaß diverse Objekte scheinbar aus dem Nichts auftauchen.
»Wie machen Sie das?«, fragte Jonathan, als urplötzlich eine getigerte Katze auftauchte und sich auf seinem Schoß niederließ.
Mountebank lächelte und streichelte die Katze.
»Ich kann dir natürlich nicht zeigen, wie ein Trick funktioniert, junger Mann. Nur so viel sei verraten: Alle großen Zaubertricks beruhen auf demselben Prinzip – der subtilen Kunst der Irreführung.«
Angesichts der unterdrückten Spannungen und Drohungen innerhalb der Gilde war es verwunderlich, dass Jonathan gerade die Menschen die größten Probleme bereiteten, die er am besten kannte. Carnegiewar besonders missmutig. Offensichtlich verärgert über Correllis Versuche, die Führung zu übernehmen, stritt er mit größtem Vergnügen mit dem »verfluchten Kerzenknutscher«. Man hatte ihn überredet, in Jonathans Zimmer auf dem Boden zu schlafen. Die erste Nacht verbrachte er damit, im Schlaf zu knurren und zu brabbeln und seinen Zimmergenossen bis in die frühen Morgenstunden wachzuhalten. Widerwillig stand Jonathan am nächsten Morgen mit dunklen Ringen unter seinen müden Augen auf und stellte fest, dass Carnegie eine kleine Speichelpfütze auf dem Schlafzimmerteppich hinterlassen hatte.
Raquella war ähnlich schlecht gelaunt. Sie war aus der ersten Besprechung herausgerannt, nachdem Correlli überraschend beschlossen hatte, dass sie nichts mit dem Raub zu tun haben sollte. Von diesem Moment an hatte sie sich demonstrativ geweigert, irgendetwas anderes als Handlangertätigkeiten zu übernehmen. Sie trug Tabletts mit Essen durch die Gegend und überbrachte den Mitgliedern der Gilde Botschaften, wobei sie stets finster dreinblickte und sich bissige Antworten verkniff.
Nachdem das Haus so viele Jahre in Ruhe vor sich hin geschlummert hatte, kämpfte es nun mit dieser explosionsartigen Zunahme an Aktivitäten. Die Treppe ächzte und knarrte unter dem Gewicht der Menschen, die über ihre Stufen trampelten und sich aneinander vorbeidrückten. Der Küchenboden war übersät mit verschüttetem Zucker, eingetrockneten Eierresten und rohen
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