Die Gilde der Diebe
theatralisch, »ist es mir gelungen, der Sache auf den Grund zu gehen.«
Er überreichte Jonathan ein zerschlissenes Buch mit dem Titel Geschichten aus der Whitechapel Gazette .
»Es ist eine Sammlung von Zeitungsausschnitten einer Lokalzeitung, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts verlegt wurde, also etwa zu der Zeit, als Darkside gegründet wurde. Sie sind voll mit aberwitzigen Geschichten über Verschwörungen und Monster, deswegen haben die meisten Menschen sie wohl nicht ernst genommen. Wie dem auch sei, einige von uns wissen es besser.«
Er zwinkerte. Jonathan zog sich einen Stuhl heran und begann einen Artikel zu lesen, der auf den 23. Februar 1895 datiert war.
»Wie es scheint, war unser Mister Xavier ein unangenehmer Zeitgenosse«, sagte Alain milde. »Wie dem auch sei. Weiter hinten in dem Buch wird beschrieben, dass dieser Artikel die örtliche Bevölkerung so erbost hat, dass sie Xaviers Fabrik niedergebrannt und ihn davongejagt hat. Damals schwor er, an einen Ort zu gehen, an dem man seine Arbeit zu schätzen weiß.«
»Und ich glaube, wir alle wissen, wo das war«, ergänzte Mountebank. »Darksider machen nicht so ein Aufheben um Arbeitsbedingungen.«
Jonathan konnte es nicht glauben. Der Cornelius Xavier in dem Buch klang ganz wie der bösartige alte Mann, den er durch die Tore des Anwesens in Kensington gesehen hatte, aber der Bericht wurde vor über einhundert Jahren geschrieben!
»Aber das kann nicht der Mann sein, den ich gesehen habe«, protestierte Jonathan. »Er müsste uralt sein!«
Mountebank lächelte müde.
»Nun, wie du inzwischen wissen solltest, Jonathan, laufen die Dinge in Darkside etwas anders. Es ist Xavier, ganz bestimmt.«
»Gut, in Ordnung«, fuhr Jonathan fort, »schön, dass ihr etwas über ihn gefunden habt, aber … das hilft uns nicht weiter, oder?«
Alain machte ein langes Gesicht.
»Na ja, das ist erst der Anfang«, sagte er ein wenig gekränkt. »Von hier aus kann ich Querverweise auf andere Werke suchen. Wir werden schon etwas finden, das dir weiterhilft.«
Alle drei vertieften sich mit neuem Enthusiasmus in die Bücher und blätterten durch die vergilbten Seiten von alten Zeitungen und Tagebüchern. Aber nach über zwei Stunden hatte Jonathan nur erreicht, dass seine Augen müde wurden. Er rieb sich matt das Gesicht.
Die Tür des Arbeitszimmers flog auf und Correlli stürmte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck herein. Mountebank trat hastig hinter den Schreibtisch.
»Wir haben ein Problem«, berichtete der Feuerschlucker.
»Was ist es dieses Mal?«, fragte Jonathan. »Streiten sich die Zwillinge wieder?«
»Noch schlimmer als das. Raquella ist verschwunden, und ich glaube, ich weiß, wo sie hinwill.«
16
Letztendlich war es erstaunlich einfach gewesen. Raquella hatte sich einen besonders heftigen Streit zwischen Fray und Nettle zunutze gemacht, war zur Haustür hinausgeschlüpft und hatte den Bus nach Kensington genommen. Obwohl sie sich in Jonathans Gegenwart bei diesem Thema etwas empfindlich gezeigt hatte, so hatte sie doch genügend Zeit in Lightside verbracht, um ohne Probleme alleine zurechtzukommen.
Bereits eine Stunde später marschierte sie die Slavia Avenue entlang. Ihre Schritte hallten auf der leeren Straße wider. Obwohl es schon dämmerte und sie allein war, hatte Raquella keine Angst. Sie war durch die Furcht einflößenden Zimmer und Korridore von Vendetta Heights geschritten. Eine einsame Straße brachte sie nicht aus der Fassung. Vielleicht hätte sie nervöser sein müssen, schließlich gab es keine Garantie, dass das, was sie vorhatte, auch gelingen würde. Aber Raquella war sich sicher, dass sie das Richtige tat. Sie hatte gehört, wie Correlli gesagt hatte, dass die Gilde unbedingt wissen müsste, was in Xaviers Haus vor sich ging. Und sie wusste, dass es nur eine Person gab, die eine Chance hatte, durch die Eingangstür zu gelangen: sie.
Aber wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst war, dann musste Raquella zugeben, dass es ihr um mehr ging. Sie war immer noch wütend, weil Correlli sich geweigert hatte, sie an dem Einbruch teilnehmen zu lassen. Und das, obwohl sie alleine in den letzten fünf Tagen den »Diamantengarten« und den »Tintenfisch-Club« überlebt hatte. Offensichtlich war der Feuerschlucker der Ansicht, dass sie nicht auf sich selbst aufpassen konnte.
Früher wäre ihr das vielleicht egal gewesen, aber jetzt hatten die Dinge sich geändert. Sie hatte jahrelang unter Vendettas grausamer Herrschaft
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