Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
Dennoch hatte das Herz des Turmfalken heftig gepocht und rascher gebebt als das eines Kleinkindes, als Rani ihre Finger auf das Brustbein des Vogels gedrückt hatte. »Ja«, hatte Gry leise gesagt. »Spürt Ihr das? Spürt Ihr das Fleisch an ihr? Wir werden sie ein wenig davon verlieren lassen, damit sie fliegen wird, wenn wir sie dazu auffordern. Ein hungriger Falke sitzt in der Falle. Ein hungriger Turmfalke bleibt, um zu fressen. Ein hungriger Vogel kann wieder eingefangen werden.«
Rani hatte das Brustbein erneut abgetastet, und dann noch einmal, bevor sie sicher war, dass sie das Gewicht Kalindraminas in sattem Zustand kannte. Dann hatte sie genickt, und Gry hatte den Turmfalken in sein Gehege gebracht.
Nun kam auf dem Hügelkamm Wind auf, als Rani einen Finger sanft auf die Brust ihres Vogels drückte. Das Mädchen hatte sich an das leise, kräftige Pochen unter dem täuschend zerbrechlich wirkenden Knochengerüst gewöhnt. Kalis Herz sehnte sich danach, frei zu fliegen, über das Weideland zu schweben. Der Falke sehnte sich danach, sich gegen den Wind zu stemmen, den Boden zu erspähen, nach Beute zu suchen. Rani nickte Gry zu, während sie das Gewicht des hungrigen Turmfalken erfasste. »Ja. Sie ist bereit zu fliegen.«
»Dann lasst sie fliegen.« Der o-beinige Falkner wartete darauf, dass Rani an den Käfig trat. Sie atmete tief ein, bevor sie den Falken auf ihre behandschuhte Faust setzte. Sie machte sich einen Moment an der Haube zu schaffen, aber dann blinzelte Kalindramina im spätnachmittäglichen Licht und neigte den Kopf auf eine Seite, während sie Rani ansah. Das Mädchen atmete scharf ein, gebannt von der Schönheit der winzigen Federn, die sich fächerförmig von den Augen des Falken ausbreiteten.
Bashi drängte an Rani vorbei zum Käfig. Während er nach Maradalian griff, brummte er: »Ja, auf geht’s.«
Rani tat ihren Protest lauthals kund. »Nein!«
»Gry.« Bashis einziges Wort enthielt alle Argumente.
»Bashi, das könnt Ihr nicht tun!«, beschwerte sich Rani. »Ihr wisst, dass Maradalian die Beute fangen wird. Sie ist schneller und schöner als Kali. Das ist nicht fair!«
»Die Tausend Götter bevorzugen die Schnellen.« Bashi nahm seinem Wanderfalken die Haube ab und setzte den Vogel auf seine behandschuhte Faust.
»Mein Prinz«, begann Gry, der sich eindeutig unbehaglich fühlte. »Ihr wisst, wie wichtig es ist, dass Kali diesen ersten Flug erfolgreich absolviert. Der Vogel ist zu wertvoll, um an einer Laune zu zerbrechen.«
»Oh, in Ordnung!«, rief Bashi aus. »Du hast mein Wort. Ich werde Maradalian auf meiner Faust festhalten, bis Kali losgeflogen ist.«
»Aber…«, wollte Rani protestieren.
»Gry hat dich doch gewiss genug über die Falknerei gelehrt, dass du begreifst, dass Maradalian keine Chance haben wird? Dein Turmfalke wird den Vorteil der Höhe und der Geschwindigkeit haben, wenn sie auf die Beute niederstößt.«
»Das weiß ich!«, fauchte Rani, verärgert darüber, dass Bashi sie wie ein Kind belehrte. »Es ist nur so, dass…«
»Was? Glaubst du, Kalindramina ist zu schwach zum Jagen, selbst mit dem Vorteil der Höhe?«
»Nein! Ich denke nur… Bitte…«, begann Rani erneut, aber dieses Mal wurde sie von dem Soldaten Farantili unterbrochen.
»Vielleicht, Euer Hoheit, sollten wir einfach einen anderen Tag abwarten.« Der Wächter richtete seine Bemerkung an Prinz Bashanorandi, während er verdrießlich die länger werdenden Schatten betrachtete.
»Ranita?« Bashi verbeugte sich vor dem ehemaligen Lehrling, überließ ihr mit verzerrtem Lächeln die Wahl.
»Nein«, antwortete sie traurig. »Bringen wir es hinter uns.«
Gry wartete einen Moment, bis sie ihre Entscheidung mit einem unglücklichen Nicken bestätigte, und pfiff dann seinem Jagdhund. Der kleine Hund hatte den Austausch mit zunehmender Aufregung beobachtet und leise gewinselt, als beide Falkner ihre Vögel auf die Faust setzten. Nun wusste er, was er zu tun hatte, und jagte über den grasbewachsenen Hang, die Nase am Boden, während er hin und her streifte. Rani folgte ihm in ihrer Reitlederkleidung mit langen Schritten und sprach dabei leise mit Kalindramina. Der kleine Turmfalke war schnell genug, um die Beute zu erwischen, selbst wenn Maradalian mit ihr konkurrierte. Rani wusste das. Sie musste es dem Falken nur ein paar Mal vorsagen.
Bashi stürzte hinter ihnen heran, während das Gras an seinen Beinen laut raschelte. Dahinter folgte Gry, und dann kamen Mair und die Soldaten.
Aufgeregte
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