Die Glasblaeserin von Murano
Größe.
Ein Notizbuch. Ein Tagebuch.
Alessandro ließ sich auf dem staubigen Fußboden nieder. So wie er da saß, in seinem Botticelli-Samtkostüm in dieser staubigen Kammer voller alter Schriftstücke, hätte er aus einem anderen Jahrhundert stammen können. Dank des Sonnenlichts, das schräg durch das Fenster fiel, wirkte die Szene wie ein altes Gemälde.
Mit zitternden Händen schlug Alessandro das Buch auf - das war es, was er gesucht hatte: Corradinos Notizbuch existierte tatsächlich noch! Fand Leonoras Suche hier womöglich ihr Ende? Er blätterte die dünnen Seiten um und betrachtete verwundert die kleine Handschrift, die detaillierten Skizzen, die hingekritzelten Maßangaben und Berechnungen. Alessandro hielt inne - was, wenn dieses Buch Leonoras Befürchtungen bestätigte?
Und tatsächlich, Alessandro brauchte nicht lange zu blättern. Hastig wischte er die schweißnassen Hände an seiner Kleidung ab. Hier hatte er den endgültigen, unwiderruflichen Beweis - die letzten Seiten enthielten Maße und Skizzen für den Spiegelsaal von Versailles. Alessandro hätte weinen mögen. Zwar hatte er das Geheimnis gelüftet, doch konnte er Leonora keine guten Neuigkeiten bringen.
Leonora.
Sein Blick fiel auf den Namen, den er diverse Male in dem Büchlein entdeckte. Hier, auf der letzten Seite, war die Handschrift anders - flüchtig und wie gehetzt, nicht mehr so akkurat wie sonst. Ein paar der Buchstaben waren verwischt - von Tränen? Von Spritzern der Gischt? Alessandro lasden Brief, den Corradino seiner Tochter geschrieben hatte. Es war ein Brief, wie ihn auch Alessandro seiner Leonora hätte schreiben können.
Kapitel 40
Der Rubinring
Jemand weinte und schrie. Wand sich auf den blutigen Laken. War sie selbst das?
Wie viele Stunden geht das nun schon so?
Nonnen und ein Arzt, alle in blauen Kitteln, standen besorgt um sie herum. Gürtel mit Messelektroden spannten sich um ihren Leib, der sich in Krämpfen wand. Neben ihr ratterte ein Wehenschreiber. Die Nadel zuckte wild über das Papier. Als die nächste Wehe über sie hinwegflutete, verdunkelten sich ihre Augen vor Qual, und sie rief wieder und wieder nach Alessandro. Und endlich, o Wunder, kam die Antwort. Es war keine Ausgeburt ihrer Phantasie, die ihr geplagter Geist ihr vorgaukelte - leibhaftig stand er hier neben ihrem Bett und hielt ihre feuchte Hand fest. Bei der nächsten Wehe drückte sie mit aller Kraft seine Finger, dann lichteten sich die Nebel wieder, und sie konnte ihn deutlich erkennen. Er bedeckte ihre Hände und Stirn mit Küssen. In der Hand hielt er ein Buch. Das laute Rauschen des Blutes in ihren Ohren wurde von seiner Stimme übertönt:
«Er kehrte zurück! Corradino kehrte zurück!»
Der Schmerz verebbte. Leonora wusste, dass ihr genug Zeit für ein paar Worte blieb, bis die nächste Wehe einsetzte.
«Ist mir egal. Bitte lass mich nicht allein.»
«Nie wieder», hörte sie ihn sagen, bevor der Schmerz erneut über ihr zusammenschlug und alle anderen Gefühle auslöschte. Leonora merkte nicht, dass er ihr einen Ring an den Finger steckte, mit einem Rubin so rot wie die Glut in einem Glasofen.
Den ganzen Tag über hatte Alessandro die kleine Schatulle mit sich herumgetragen. Er hatte sich bereits vor einiger Zeit vorgenommen, ihr Karneval einen Heiratsantrag zu machen - deshalb war er auch am Abend zuvor so aufgeregt gewesen. Doch so hatte er sich das Ganze wahrlich nicht vorgestellt: zunächst ihr Streit, der fast alles zerstört hatte, nun das. Sie würde seinen Antrag weder hören noch beantworten können! Ihm war klar, dass er bis zum nächsten Tag warten musste, dann würde er sie mit einem Blumenstrauß in aller Form um ihre Hand bitten. Den Ring musste sie allerdings unbedingt heute schon haben. Womöglich war es morgen ja zu spät.
Kapitel 41
Der Brief (Teil I)
Ganz still lag Leonora da. Alessandro stand neben ihr, Tränen in den Augen, und hielt ihre Hand. Die Hand mit seinem Ring. Sie hatte es überstanden.
Und der Lohn für all die Qual? Der schlief auch, in einem durchsichtigen Kunststoffbettchen neben ihrem Bett. Ein kleines, vollkommen geformtes Wesen, dessen zerknittertes Gesicht noch von der überstandenen Anstrengung zeugte. Für Alessandro war es neben Leonoras das schönste Antlitz der Welt. Sein Sohn.
Alessandro war gerade noch rechtzeitig gekommen, um die Geburt mitzuerleben. Die Ereignisse der vergangenen Nacht erschienen ihm inzwischen wie ein böser Traum. Nachdem er Corradinos Brief
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