Die Glasblaeserin von Murano
lief ins helle Tageslicht hinaus. Sie wandte sich nach rechts zur Touristeninformation im Casino de Caffe, wo sie wegen des Konzertes nachfragte. Anschließend machte sie sich auf den Weg zu der Kirche, aß unterwegs einen Teller Pasta und sah dabei zu, wie die Sonne in der Lagune versank.
Jetzt, da sie in der Kirche Santa Maria della Pietä saß, wurde ihr bewusst, dass sie für ihren ersten Abend eine gute Wahl getroffen hatte. Der ganze Tag war eine solche Offenbarung für sie gewesen, ein solcher Ansturm auf ihre Sinne, dass sie diese Stunden, in denen sie untätig dasaß, die Musik in sich aufnahm und ihre Gedanken sammeln konnte, als Wohltat empfand.
Von dem Augenblick an, als sie auf dem Marco-Polo-Flughafen eingetroffen war, hatte sie das Gefühl gehabt, nicht mehr Herrin der Lage zu sein. Als die Motorbarkasse mit ihr und ihren Koffern über die Lagune nach Venedig fuhr, fühlte sie sich wie durchgerüttelt, was angesichts des Windes und der Ereignisse, die hinter ihr lagen, gar nicht so falsch war.
Seit den frühen Morgenstunden in London hatte sie wie in Trance gelebt. Die üblichen Reisevorbereitungen liefen automatisch ab - ein Taxi zum Flughafen, das Gepäck aufgeben. Und dann das Gefühl von Leichtigkeit und Unwiderruflichkeit, als sie, unbehindert durch Koffer, einen Bummel durch die Läden am Flughafen machte, die alle voll waren mit Dingen, die sie nicht brauchte. In der Buchhandlung nahm sie einen Roman zur Hand, dessen Einband ein Gemälde von Canaletto zeigte, und wurde sich staunend bewusst, dass sie bereits am Mittag durch dieselben Straßen laufen würde, die er gemalt hatte. Sie legte das Buch wieder zurück - sie brauchte keine Fiktion.
Sie betrat bald ihr eigenes, reales Venedig.
Während des Fluges war sie noch ganz beherrscht. Sie bedankte sich, als man ihr Speisen und Getränke servierte und ihr eine Gratiszeitschrift brachte. Aufmerksam lauschte sie den Sicherheitsanweisungen. Doch in dem Augenblick, da das Flugzeug landete, empfand Nora für einen kurzen Moment ein ungewohntes, jedoch nicht unangenehmes Gefühl der Hilflosigkeit. Sie musste daran denken, dass sie sich in ihren absurden Tagträumen ausgemalt hatte, wie das Flugzeug mitten auf dem Markusplatz landete. Aber die Wirklichkeit war fast ebenso merkwürdig. Der Flughafen Marco Polo schien auf dem Wasser zu liegen, ein Inselflughafen, umgeben vom Meer. Über den nächsten Schritt hatte sie vorher gar nicht nachgedacht, doch natürlich musste sie jetzt ein Boot nach Venedig nehmen. Als der Bootsführer ihr beim Einsteigen in das schwankende Wassertaxi die Hand reichte, stellte sie unwillkürlich einen Vergleich zu dem schwarzen Taxi und dem gut gelaunten Fahrer mit Cockney-Akzent an, der sie um sechs Uhr morgens nach Heathrow gebracht hatte. Nach kurzer Fahrt näherte sich das Boot dem Land und fuhr tuckernd in einen schmalen Kanal ein. Nora, die sofort wusste, dass das noch nicht Venedig selbst war, vernahm ein seltsames fernes Klingen, so als riefe der Widerhall einer Glocke ihr etwas zu. Als habe er ihre Gedanken gelesen, deutete der Fahrer mit dem Daumen auf die alten Gebäude und rief laut, um das Rauschen des Windes zu übertönen: «Murano!»
Murano. Die Heimat der Glasbläser. Die Arbeitsstätte ihres Vorfahren. Nora verspürte ein Gefühl der Ergriffenheit, als sie an den fondamente, den Glashütten, vorbeifuhr, die dicht an dicht standen. Dieselben Gebäude wie damals beherbergten noch immer dasselbe Handwerk, wie schon seit Jahrhunderten. Sie fasste den Beschluss, am folgenden Tag hierher zurückzukehren und sich um Arbeit zu bemühen. Jetzt jagte ihr dieser verrückte Plan keine Angst mehr ein, sie war sich auf einmal ganz sicher. Das hier war kein Traum, sondern die Realität, und sie würde alles daransetzen, damit diese so ausfiel, wie sie sich das ausgemalt hatte. Ihr kam das Wort Schicksal in den Sinn. Ein albernes, romantisches Wort, das nach ihrem Geschmack zu sehr nach Fremdbestimmung klang, ihr jedoch nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie umfasste das gläserne Herz, das um ihren Hals hing, und plötzlich war ihr nach einer Geste zumute, die das Gefühl wiedergab, das sie verspürte: Freiheit. Sie löste ihr Haar und ließ es im Wind flattern. Es sollte ein Gruß an Murano sein, doch in Wirklichkeit, so wusste sie, war er an Stephen gerichtet.
Im Hotel bedauerte sie ihre impulsive Geste. Vor dem unechten Rokokospiegel im Badezimmer mühte sie sich damit ab, das zerzauste Haar durchzukämmen. Hier
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