Die Glasblaeserin von Murano
die Masse - wälzte sie in einem hölzernen, nassen Gefäß -, bis sie die richtige Form angenommen hatte und bereit zur Umwandlung war. Für Corradino war Glas ein lebendiges Wesen. Wie ein Kokon, den man hegte und pflegte und aus dem nun etwas Wunderschönes schlüpfen würde.
Er holte tief Luft und blies. Auf wundersame Weise blähte sich das Glasklümpchen am Endstück der Pfeife zu einem lang gestreckten, zarten Ballon. Danach hielt Corradino immer so lange die Luft an, bis die Blase - der Külbel - rundherum vollkommen war. Unter seinen Kollegen grassierte der Scherz, Manin sei ein solcher Perfektionist, dass ihm vermutlich eines Tages über einem widerspenstigen Külbel die Luft ausgehen und er auf der Stelle sterben würde. In Wahrheit wusste Corradino, dass im entscheidenden Moment der zarteste Atemhauch darüber bestimmte, ob das Gefertigte vollkommen oder misslungen, göttlich oder bloß schön war.
Er sah, wie das Glas chamäleongleich die Farbe wechselte, von Rot über Rosa, Orange, Goldgelb, Gelb bis hin zu Weiß, wenn es zu erkalten begann. Corradino war sich bewusst, dass er zügig arbeiten musste. Er schob den Külbel noch einmal in den Ofen, um ihn kurz zu erhitzen, dann fing er an, ihn mit den Händen zu formen.
Anders als die anderen Glasbläser benutzte er niemals Schutzpolster aus Baumwolle oder Papier, mit denen man die Haut davor bewahren konnte, zu verschrumpeln und Blasen zu werfen. Schon vor langer Zeit hatte er der Kunst seine Fingerspitzen zum Opfer gebracht. Sie waren verbrannt, vernarbt und schließlich glatt und ohne Linien wieder verheilt. Corradino erinnerte sich an die Berichte des Marco Polo, der behauptet hatte, in der alten chinesischen Tang-Dynastie habe man Menschen mit Hilfe ihrer Fingerlinien identifiziert. Angeblich würde diese Methode im Orient noch immer angewendet.
Mein Ich ist in das Glas eingeflossen. Irgendwo in Venedig oder weit jenseits des Meeres liegt die Haut meiner Finger eingebrannt in den Schmelz eines Pokals oder eines Kerzenleuchters.
Corradino wusste, dass sein Glas unter anderem deshalb das beste war, weil er es in seinen Händen hielt, weil es seine Haut berührte, seinen Atem spürte. Er nahm die Schere zur Hand und begann, zarte, filigrane Schnörkel aus dem Hauptzylinder zu ziehen, bis der Röhre ein ganzer Wald von Kristallzweigen entspross. Dann brach Corradino rasch die Pfeife ab, nicht ohne das Stück mit einer festen Eisenstange, dem Hefteisen oder Pontil, zu übernehmen, und machte sich daran, das offene Ende zu bearbeiten. Endlich, als das Glas unnachgiebig wurde und langsam aushärtete, trug er es hinüber zum eigentlichen Werkstück und wand den neuen Arm in einer dekorativen Spirale um das Mittelstück des Leuchters. Da gab es kein unebenes Fleckchen, keinen Ansatz des Pontils, keinen Nabel, der die Herkunft des Werkstücks preisgegeben hätte.
Bis das Glas gänzlich erstarrt war, stützte Corradino den Arm des Kronleuchters ab und bewunderte sein Werk. Dann trat er einen Schritt zurück und wischte sich über die Stirn. Weil er wie alle vetraie kein Hemd trug, spürte er von morgens bis abends die Hitze des Glasofens auf der Haut. Während er die emsigen Arbeiter um sich herum betrachtete, überlegte er, ob diese Arbeit wohl eine gute Vorbereitung auf das Höllenfeuer war. Wie hatte Dante noch geschrieben?
Denn zwischen Gräbern sieht man Flammen lodern, Und alle sind so durch und durch entflammt, Dass keine Kunst mehr Stahl und Eisen fordert.
Corradino kannte das Werk des Florentiners gut. Damals, in jener Nacht, als sie fliehen mussten, hatte sein Vater jedem Familienmitglied erlaubt, einen Gegenstand, der ihm besonders am Herzen lag, aus dem Palazzo Manin mitzunehmen. Die Wahl seines Vaters war auf eine wertvolle, auf Pergament geschriebene Ausgabe von Dantes «Divina Commedia» aus seiner Bibliothek gefallen.
Mein Vater hat das ausgewählt, was ihm am teuersten war. Es ist das einzige Buch, das ich besitze. Das einzige Erinnerungsstück an meinen Vater.
Corradino schob den Gedanken an ihn beiseite und wandte sich wieder den bedrohlich wirkenden Flammen zu. Es war kein Wunder, dass der Große Rat von Venedig im Jahre 1291 verfügt hatte, dass die Glasherstellung nur noch auf der Insel Murano gestattet sein sollte, da von dem Gewerbe eine ständige Feuergefahr für die Stadt ausging. Mehr als einmal war Venedig nur um Haaresbreite der völligen Vernichtung durch einen Brand entgangen, der in einem der Glasöfen ausgebrochen
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