Die Glasblaeserin von Murano
war. Es war eine weise Entscheidung gewesen, die Glashütten zu verlagern, hatte doch erst wenige Jahre zuvor eine Feuersbrunst fast die gesamte Stadt London in England zerstört. Dort war das Feuer allerdings nicht von einer Glashütte ausgegangen. Unter den Kaufleuten auf der Rialtobrücke kursierten Gerüchte, wonach der Brand in einer Pastetenbäckerei entstanden sein sollte. Corradino schnaubte verächtlich.
Das sieht den Engländern ähnlich - immer denken sie nur an ihren Magen.
Für das Glasgeschäft von Murano war der Brand von London ein Glücksfall gewesen. Der englische König Charles hatte sich der Aufgabe angenommen, London wieder aufzubauen und seine prachtvollen neuen Gebäude mit Spiegeln und zahlreichen Fenstern versehen zu lassen. Aus diesem Grund hatten Corradino und die anderen Glasbläser viele Aufträge aus jener fernen Hauptstadt erhalten.
Obgleich Corradino seinen Kronleuchter beinahe vollendet hatte, gab es noch viel zu tun. Es wurde bereits dunkel, und bald würden seine Kollegen die Öfen löschen, die Türen schließen und nach Hause gehen. Corradino wollte jedoch unbedingt seine Arbeit fertig stellen und trug daher einem der Lehrlinge noch eine letzte Besorgung auf. Als er sah, wie der Junge durch die Fondaria flitzte, über Eisenrohre sprang und Haken um die herumstehenden Wassereimer schlug, dachte Corradino lächelnd, dass der Spitzname der Lehrlinge - «scimmia di vetraia», Glasaffe -den Nagel auf den Kopf traf.
Gleich daraufwar der Junge zurück und hielt ihm einen Kasten hin. «Eccola, Maestro.»
Corradino öffnete den langen Rosenholzkasten. Er war in hundert kleine Fächer unterteilt, die alle nummeriert und mit ein wenig Wolle ausgepolstert waren. Nun begann die Feinarbeit. Corradino nahm einen kleinen Pontil, viel kleiner als seine zuverlässige Glaspfeife, und tippte ihn in die geschmolzene Glasmasse am Boden seines Ofens. Als er die Stange wieder herauszog, glich sie einer brennenden Kerze. Er wartete einen Augenblick lang, dann zupfte er das glühende Kügelchen von der Stange und fing an, es zuerst zwischen seinen Handflächen, dann zwischen den Fingern zu rollen. Als er mit der Form zufrieden war, zog er die Kugel an einer Seite in die Länge, bis sie einer Träne glich, und bog das Ende zu einem kleinen Häkchen. Zum Schluss ließ er das Juwel, das er gerade geformt hatte, in den Eimer mit Wasser fallen, der zwischen seinen Knien stand. Eine ganze Zeit später griff er in den Eimer und fischte das kleine Schmuckstück heraus.
Dabei musste er an die Geschichten von den Perlentauchern im Orient denken, Geschichten, die bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreichten, als Venedig noch über Konstantinopel herrschte.
Empfinden diese Jungen, die da in der Tiefe nach Perlaustern tauchen, bis ihnen fast die Lungen bersten, eine ebensolche Zufriedenheit wie ich? Oder die Arbeiter, die im Harzgebirge in Deutschland im heißen, dunklen Bergwerk schuften und auf eine Silberader stoßen - ist denen dann zumute, als hätten sie diesen Schatz erschaffen? Und was ist mit denjenigen, die in den Diamantenminen Afrikas ein makelloses Kleinod aus dem Fels brechen, empfinden sie den gleichen Stolz wie ich? Sicherlich nicht. Denn wenn sie einen Schatz finden, dann ist es reines Glück, ein Geschenk der Natur. Ihre Schätze wurden von Gott erschaffen, doch diese schönen Dinge hier habe ich mit meinen eigenen Händen gefertigt. Und in dieser Welt, unserem siebzehnten Jahrhundert, ist Glas kostbarer als alle anderen Schätze, wertvoller als Gold, teurer als Safran.
Corradino legte den erstarrten Tropfen behutsam in das Kästchen mit der Nummer eins. Auch in seinem Nest aus Wolle strahlte das Glas noch immer rein und klar wie ein Diamant. Corradino sandte ein stummes Dankgebet an Angelo Barovier, den Maestro, der zwei Jahrhunderte zuvor das cristallo-Glas erfunden hatte, mit dem Corradino jetzt arbeitete. Bis zu jener Zeit hatte Glas immer einen Farbschimmer gehabt, und selbst das farbloseste Glas wies Unreinheiten, Trübungen oder eine milchige oder rauchige Tönung auf. Mit dem cristallo hatte man zum ersten Mal ein völlig reines, kristallklares Glas hergestellt, eine Tat, die Corradino nicht genug preisen konnte.
Er wandte sich wieder seinen Tropfen zu. Noch neunundneunzig waren anzufertigen, bevor er nach Hause in sein Quartier zu seinem Abendessen aus Wein und Polenta gehen durfte. Er konnte diese Arbeit unmöglich einem Lehrling überlassen. Zum Erstaunen seiner Kollegen
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