Die Glasblaeserin von Murano
sah sie vollkommen anders aus als heute Morgen um vier Uhr in ihrem Londoner Spiegel. Was ihr aus dem venezianischen Glas entgegenblickte, war eindeutig ihre venezianische Seite. Ihr Haar war eine wilde Mähne, ihre Wangen waren von der Meeresbrise gerötet, und ihre Augen blitzten vor Begeisterung. Nur das Glasherz war noch dasselbe, wie es da an ihrem Hals hing. Nora fand, sie sah unordentlich aus, sogar ein wenig verrückt - doch auch ziemlich hübsch.
Das fand jemand anders auch.
Er saß in der Kirche auf der anderen Seite des Ganges in ihrer Reihe. Er war um die dreißig, außerordentlich gepflegt - wie auffallend viele italienische Männer, stellte Nora verblüfft fest - und vermutlich groß, denn man konnte sehen, dass er seine Beine nur mit Mühe in der engen Kirchenbank untergebracht hatte. Und sein Gesicht -ein Gedanke drängte sich ihr auf.
Er sieht aus wie einem Gemälde entstiegen.
Sofort fiel Nora die Geschichte ihrer Mutter wieder ein, und sie dachte mit Schrecken daran, dass Elinor vor gut dreißig Jahren Ähnliches empfunden haben mochte wie sie. Sie wandte sich ab. Doch der Gedanke ließ sie nicht los. Wieder blickte sie zu dem Mann hinüber - und musste feststellen, dass er sie beobachtete. Mit brennenden Wangen drehte sie sich entschlossen weg.
Die Musik übte eine beruhigende Wirkung auf Nora aus, sie konzentrierte sich jetzt ganz auf das, was ihr gleich beim Eintreten aufgefallen war: auf den wunderschönen, großen Kronleuchter aus Glas, der wie ein umgedrehter kristallener Baum hoch über ihrem Kopf im Dunkel des Kirchenraumes schwebte. Zahllose Tropfen aus Glas glitzerten an den filigran wirkenden Zweigen, viel zu zart für die Last ihrer Früchte. Nora versuchte, mit den Augen jeden einzelnen Zweig in seinen Krümmungen und Windungen zu verfolgen, doch immer wieder spielte ihr die verschlungene Form einen Streich, und sie verlor den Zweig aus dem Blick. Es sah aus, als würde das Licht der Kerzenflammen von den Glastropfen eingefangen. Das Innere der perfekt gearbeiteten Prismen glühte und funkelte wie Diamanten. Wie zuvor, als sie im Boot die Insel Murano passiert hatte, glaubte Nora auch jetzt ein leises Klingeln zu hören. Doch im selben Augenblick erkannte sie, dass es diesmal keine Einbildung war. Das Glas sang. Ein kaum wahrnehmbarer süßer Ton war zu vernehmen, hervorgerufen durch den Klang der Streichinstrumente, der die Arme und Kristallanhängsel des Leuchters zum Schwingen brachte. Nora suchte in ihrem Faltblatt nach Informationen über dieses Wunder, das ihr eigener Vorfahr geschaffen hatte, doch dort stand nichts. Langsam trat ein leises, wissendes Lächeln auf Noras Lippen.
Dieser Leuchter war schon hier, als du noch lebtest, Antonio Vivaldi. Auch du hörtest den Widerhall deiner Stücke, die Harmonie der Kristalle, die deine Musik unterstrich. Er war sogar schon hier, bevor du geboren wurdest. Und geschaffen hat ihn Corradino Manin, mein Vorfahr.
Kapitel 5
Der Camelopard
In einem dicken, wassergefüllten Fass hängend überquerte der große Kronleuchter die Lagune. Sanft schwang er im Einklang mit den Bewegungen des Bootes in der tintenschwarzen Flüssigkeit hin und her, in der nur manchmal, wenn ein wenig Mondlicht hineindrang, eines der Prismen aufblitzte wie ein Diamant in einem See aus Pech, In diesem Fass war der Kronleuchter geschützt wie ein Kind im Fruchtwasser des Mutterleibes. Vergangene Nacht vollendet wartete er jetzt darauf, zum Leben zu erwachen. Das riesige, aufrecht stehende Fass war mit so vielen Seilen auf dem Bootsdeck gesichert worden, dass es aussah, als habe es sich in einem Fischernetz verfangen. Die Ruderer legten sich in die Riemen, sodass die Ruderblätter klatschend ins Wasser eintauchten, und sangen dazu ein altes piemontesisches Lied. Drinnen im Fass stimmte der Kronleuchter in ihren Gesang mit ein.
Corradino taten bereits sämtliche Knochen weh, doch er legte seine Arbeit nicht nieder. Vor ihm an einer Eisenkette hing der fast fertig gestellte Leuchter und schimmerte in dem Feuerschein, der aus dem Ofen drang, rotgolden. Er streckte dem Glasbläser seine Arme entgegen, als flehe er um Vollendung. Einer seiner fünf kunstvoll gefertigten Arme fehlte noch, daher ging Corradino jetzt ein letztes Mal zum Feuer hinüber. Er schob das lange Rohr der Glasmacherpfeife mitten in die weiche Schmelze hinein, rollte sie geschickt hin und her und nahm dann mit dem Ende ein Stück der Masse, einen Glasposten, auf. Danach märbelte er
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