Die Glasblaeserin von Murano
vor den Augen, kleine schwarze Zeichen, deren Bedeutung neben dieser Pracht verblasste.
Warum hat mich niemand auf die beeindruckende Schönheit dieser Stadt vorbereitet?
Seit Jahren hatten Freunde und Kollegen ihr geraten, nach Venedig zu fahren. Sie konnten kaum glauben, dass sie, die Künstlerin und Halbvenezianerin, noch nie dort gewesen war. Nora hatte es selbst nicht verstanden. Doch die Kaffeepause an der Rialtobrücke hatte Nora die Augen geöffnet. Sie wusste nun, warum: Elinor hatte sich auf ein venezianisches Abenteuer eingelassen und war bitter enttäuscht worden. Die Serenissima hatte sie von sich gestoßen, sie im Stich gelassen. Nora hatte sich gescheut, hierher zu kommen und Vergleiche anzustellen, auf Spuren dieser alten Geschichte zu stoßen oder gar in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Sie wollte ihre eigenen Erfahrungen mit Italien machen und suchte sich daher Städte wie Florenz, Ravenna und Urbino als Reiseziel aus. Doch alle Venedig-Fans in ihrem Freundeskreis hatten ihr versichert, dass es die einzige Stadt sei, die wirklich hielt, was sich alle Welt von ihr versprach. Sie hatten ihr die Wahrheit gesagt, die sie jedoch nicht hatte hören wollen.
Wen sie dagegen für ihre eigene Unwissenheit verantwortlich machte, das waren die Künstler, die Schriftsteller.
Warum hat Canaletto diese Stadt nicht so dargestellt, wie sie wirklich ist? Warum konnte er, der große Meister,
mir das alles nicht nahe bringen? Warum hat er die Schönheit Venedigs nur angerissen, anstatt sie in allen Einzelheiten wiederzugeben? Warum haben mich William Turner und Henry James nicht auf all das hier vorbereitet? Gemessen an der Wirklichkeit sind Evelyn Waughs Lobpreisungen geradezu beleidigend dürftig. Und Thomas Mann - warum hat er so viel ausgelassen? Nicht einmal Nicholas Roeg ist es gelungen, Venedig so mit der Kamera einzufangen, wie es wirklich ist.
Die junge Frau in der großen Empfangshalle der Bibliothek erklärte Nora in präzisem, perfektem Englisch, dass sie leider nicht in das Allerheiligste des Gebäudes vordringen dürfe. Doch selbstverständlich könnten Besucher ohne Leseausweis die öffentliche Handbibliothek benutzen. Nora reichte ihr ihren Pass und sah zu, wie die Angestellte mit ordentlicher runder Schrift einen Tagesausweis ausstellte. Dann folgte sie ihr gespannt durch die Doppeltüren links vom Eingang, die sich gleich wieder hinter ihr schlössen. Die Luft im Lesesaal war stickig. Der Geruch nach Staub und warmem Leder erinnerte Nora an ihre Studentenzeit. Außer ihr war nur noch ein älterer Mann anwesend. Er schaute kurz von seinem Buch auf, nickte und widmete sich wieder seinem Text. Das Mädchen erklärte Nora rasch die Kataloge und verschwand dann geräuschlos.
Nora ging die vergilbten Karteikarten durch. Unter dem Stichwort «Manin» fand sie eine verblüffend große Anzahl von Einträgen, stellte jedoch schnell fest, dass sich die meisten davon auf den Dogen Lodovico bezogen. Die Sonne vor dem Fenster war bereits ein Stückchen weitergezogen, als sie schließlich den einzigen Eintrag zu Corrado Manin fand. Aus einem weiter hinten gelegenen Regal zog sie ein riesiges Buch von der Art hervor, wie sie die Beistelltischchen in aller Welt zieren, ungelesen, mit Abbildungen, die sich nie jemand anschaut. Nora setzte sich an einen der lederbezogenen Tische, blätterte die Seiten um und war bald vollkommen fasziniert - selbst die vergilbten Fotos aus den sechziger Jahren konnten die Schönheit des Dargestellten nicht schmälern. Der Anblick all dieser einzigartigen, in höchstem Maße kunstvollen Arbeiten überwältigte sie so, dass sie unwillkürlich seufzte und die Stirn in die Hände sinken ließ. Der alte Mann warf ihr einen besorgten Blick zu.
Ich bin hierher gekommen, um einen Verwandten zu finden, der mich mit Venedig bekannt macht, und stoße stattdessen auf einen Meister - einen Leonardo, einen Michelangelo.
Nora fühlte sich klein und unbedeutend angesichts dieses Talentes, empfand jedoch zugleich auch Stolz. Schließlich blieben ihre Augen an einem wunderschönen Kronleuchter hängen, und sie las die Bildunterschrift: «Kandelaber - La Chiesa di Santa Maria della Pieta, Venezia». Plötzlich fiel ihr ein, dass sie in der Stadt ein Plakat gesehen hatte, welches eine Reihe von Konzerten mit venezianischer Musik ankündigte. Sie alle sollten an Originalschauplätzen stattfinden, das in der Kirche der Pietä am heutigen Abend. Schnell stellte Nora das Buch zurück und
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