Die Glasblaeserin von Murano
sich nicht mehr verlaufen. In der englischen Hauptstadt fand sie zuverlässig ihren Weg, notfalls mit Hilfe der übersichtlichen farbigen U-Bahn-Pläne oder einer Stadtkarte. Stephen, diese Quelle des Wissens, hatte ihr erzählt, dass der Künstler, der den ersten U-Bahn-Plan entwarf, bewusst die Abstände zwischen den einzelnen Stationen gleich groß darstellte, obwohl sie in Wirklichkeit völlig unterschiedlich waren. Damit wollte man den Bürgern von London ein Gefühl der Sicherheit geben. Sie sollten sich schneller mit diesem unheimlichen unterirdischen Beförderungsmittel anfreunden und den Eindruck gewinnen, dass es sie schnell und sicher durch klar gegliederte Quadranten der Stadt trug.
Doch die Bauweise Venedigs forderte selbst Noras recht ausgeprägte Spontaneität und Kreativität heraus. Die alten gelben Hinweisschilder auf den Mauern der Calli gaben meist nur zwei Ziele an - San Marco und Rialto. Doch da sich die Straßen nach dem Canal Grande richteten, der sich s-förmig durch die Stadt schlängelte, wiesen die Schilder oft in dieselbe Richtung. Einmal kam Nora sogar zu einer Piazza, auf der es zwei Wegweiser nach San Marco gab, und beide zeigten in die entgegengesetzte Richtung.
Bin ich Alice im Wunderland? Die Hinweisschilder müssen von der Grinsekatze stammen.
Ihr Gefühl, sie lebe wie Alice hinter den Spiegeln im Wunderland, verstärkte sich noch, als sie am Nachmittag den Weg zurück zum Markusplatz suchte. Als sie den Wegweisern folgte, führten diese sie immer weiter von ihrem Ziel fort, bis sie sich schließlich am weißen Bogen der Rialtobrücke wiederfand.
Nora beschloss, sich in der Nähe der Brücke bei einem Kaffee auszuruhen. Sie beobachtete die Ströme von Touristen, die, begierig nach Neuem wie einstmals die Kaufleute, über die Brücke schwärmten und dabei Reiseführer und Ausgaben von Shakespeares «Kaufmann von Venedig» in den Händen hielten. Innerlich distanzierte sich Nora von diesen Massen.
Ich bin keine Touristin. Ich will hier bleiben, hier leben.
Dieses Leben wartete derweü in Kisten verpackt in einem Lagerhaus auf dem grauen Werftgelände von Mestre. Sie hatte die Lagermiete für einen Monat bezahlt - so viel Zeit hatte sie sich selbst zugestanden, um eine Wohnung zu finden und eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.
Sie sah die vaporetti vorbeituckern und musste an ihren Vater denken. Als ein voll besetztes Boot an der Fermata Rialto hielt, beobachtete sie, wie ein junger Mann im blauen Overall - der üblichen Arbeitskleidung der Bootsleute - an Land sprang, das Haltetau um den Poller wickelte und das Boot mit flinken, geübten Bewegungen zu seinem Anlegeplatz zog. Mein Vater, dachte sie. Der Gedanke war ihr ungewohnt. Ebenso ungewohnt wie die Vorstellung, dass ihre Mutter den Mut gehabt hatte, hierher zu kommen, sich zu verlieben und schwanger zu werden. Sie verdrängte den Gedanken an ihre Mutter rasch. Nora wollte nicht gerne daran erinnert werden, dass Elinor als Erste hier gewesen war. Das hier sollte ihre Odyssee sein. «Ich bin nicht meine Mutter», sagte sie laut. Im Handumdrehen stand ein Kellner neben ihr und blickte sie freundlich und fragend an. Nora musste lächeln. Sie schüttelte den Kopf, zahlte und ging.
Diesmal machte sie es wie die Herzkönigin aus «Alice im Wunderland». Sie ging genau in die entgegengesetzte Richtung, die das Schild ihr wies, und trat bald darauf auf den Platz, den Napoleon als «Europas schönsten Salon» bezeichnet hatte.
Wie der gewaltige Zeiger einer Sonnenuhr ragte der Campanile, der Glockenturm von San Marco, in den Himmel; die Arkaden wirkten wie langgezogene Bögen aus Licht. Überwältigt starrte Nora auf die bronzenen Kuppeln des Markusdoms - welch eine Pracht und Herrlichkeit, ein Hort von Schätzen, die vorwiegend aus dem Osten stammten. Hier hatten sich Rom und Konstantinopel vereinigt und dieses seltsame und doch so wunderbare, bucklige Wesen hervorgebracht, das wie ein stachelbewehrter Drache über die Stadt wachte. Im Gegensatz dazu wirkte die Bauweise des Dogenpalastes geradezu luftig, als hätte man eine erlesene Hochzeitstorte mit einem Zuckerguss aus weißem, filigranem Stein schaffen wollen. Nur hierher passte die Orologio, die Riesenuhr, auf deren Zifferblatt goldene Tierkreiszeichen anstelle von Zahlen zu sehen waren. Nora hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen. Um sie drehte sich alles. Sie schlug ihren Reiseführer auf, doch die Worte ergaben keinen Sinn. Die Buchstaben verschwammen ihr
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