Die Glasblaeserin von Murano
behauptete Corradino nämlich, dass jeder Tropfen seine eigene Form haben müsse, ganz darauf ausgerichtet, an welcher Stelle des Kronleuchters er angebracht wurde. Nur so könne sich das Licht der Kerzen gleichmäßig in den Tropfen brechen und einen vollkommenen Strahlenkranz entfalten, wenn der Leuchter erst in einer Kirche oder einem Palazzo hing. Doch obwohl die Glasbläser der Fondaria und die Lehrjungen lange auf die Tropfen in Corradinos Kisten starrten, erklärten sie ihn für verrückt, denn für sie sahen alle Tropfen gleich aus. Corradino war nicht gekränkt, er lächelte nur. Er wusste, dass er es nicht nötig hatte, seine Arbeit zu verstecken - sie sollten ruhig schauen, sie würden doch nicht herausbekommen, wie er es machte. Sogar er selbst verstand nicht völlig, was seine Finger eigentlich taten, wenn er sich vorstellte, wo der jeweilige Tropfen hängen sollte.
Corradino schaute sich immer zunächst die Räume an, in denen seine Kronleuchter hängen sollten, und stellte seinen Kunden endlose Fragen über die Beleuchtung des Raumes. Dann inspizierte er die Fenster und Fensterläden und bezog sogar den Einfallswinkel des Sonnenlichts und die Lichtreflexe vom Wasser des Kanals in seine Berechnungen mit ein. Und jedes Mal notierte er alles in einem kleinen Büchlein aus Pergament. Jetzt, auf dem Höhepunkt von Corradinos Schaffen, waren die Seiten dicht bedeckt mit seiner akkuraten Handschrift und den schönen Zeichnungen. Auch Maßangaben und Gleichungen drängten sich auf dem Pergament, denn Corradino hielt viel von der alten Wissenschaft der Mathematik. Er vergaß auch nicht, die Besonderheiten aller Werkstücke und seine Fortschritte festzuhalten, und konnte, indem er auf die Notizen zurückgriff, seine Kunst weiterentwickeln.
Als er den letzten Tropfen vollendet hatte, zog er sein Buch heraus. Er blätterte es durch, bis er zu den Maßangaben für die Santa Maria della Pietä kam, und fügte rasch eine Federskizze des fertigen Stückes hinzu. Sogar als Zeichnung wirkte der Leuchter plastisch wie ein Kristallrelief.
Corradino gab stets gut auf sein Büchlein Acht und trug es immer direkt an seinem Körper, obwohl er sich sicher war, dass seine Kollegen mit den Aufzeichnungen sowieso nichts anfangen konnten. Er wusste sehr wohl, dass sich die anderen Vetraie über ihn lustig machten und spotteten, Manin würde sein Buch noch nicht einmal weglegen, wenn er eine Frau beglückte. Er war ein ungewöhnlicher Mensch, aber ein Genie, daran zweifelte keiner.
Von seinem außerordentlichen Talent zeugten seine Arbeiten, die so gut wie in jedem Palazzo, jeder Kirche und jedem vornehmen Speiselokal von Venedig hingen oder standen: jeder einzelne seiner schimmernden Pokale, jeder Spiegel, glatt wie die Lagune im Sommer, und sogar die kleinen Karnevalsgeschenke in Form von Glaskugeln und gläsernen Bonbons. Sie alle funkelten wie kostbare Juwelen. Sein neuestes Werk würde die düstere Kuppel der Santa Maria della Pietä mit nie gesehener Helligkeit erfüllen. Und es würde singen, so wie viele seiner Stücke sprachen oder sangen. Schnippte man beispielsweise mit dem Fingernagel gegen eines seiner Trinkgläser, begann es singend von dem Gold zu erzählen, mit dem sein Rand verziert war - von Samarkand und dem Bosporus und den glühend heißen Sommern im Orient. In diesem Kronleuchter würde dagegen die Musik nachklingen, die die
Mädchen in der Pietä spielten. Diese Waisen, die niemanden hatten, der sie liebte und den sie wiederlieben konnten, und daher ihre ganze Liebe in ihre Musik legten. Davon würde sein Glas singen. Und es würde ihnen zuraunen, dass zumindest eine unter ihnen war, die doch geliebt wurde.
Die Pietä. Corradino lächelte. Morgen würde er mit den Glastropfen zur Pietä gehen. Der Leuchter sollte ihm auf einem besonderen Boot mit flachem Boden vorausfahren. Corradino selbst war auf die perfekte Verpackungsmethode für seine kostbaren candelabri gekommen: Sie wurden in einem gewaltigen Fass aufgehängt, das mit gefiltertem Lagunenwasser gefüllt war. So war der zerbrechliche Inhalt gegen Stöße geschützt und würde, solange das Boot nicht kenterte, jede Reise überstehen. In der Santa Maria della Pietä angekommen, sollte der Leuchter mit einer Winde aus dem Fass gehievt werden. Das an ihm herabströmende Wasser würde in dem Licht, das durch die Fenster fiel, glitzern wie das Glas selbst. Und dann würde der Leuchter, vielleicht für viele kommende Jahrhunderte, seine Bestimmung
Weitere Kostenlose Bücher