Die Glasblaeserin von Murano
war. Warum klappte es mit dem einen Mann und mit dem anderen nicht? Vielleicht erkannte das Schicksal oder die Natur, wann man den Richtigen gefunden hatte. Stephen war jedenfalls nicht der Richtige für sie gewesen - dagegen hatte er Carol im Handumdrehen geschwängert.
Stephen. Seit Wochen hatte Leonora nicht mehr an ihn gedacht. Er ... sie mussten das Kind mittlerweile bekommen haben. Ob er wohl ein guter Vater war? Oder einer, der sich nur für gute Noten interessierte und für eine erstklassige Ausbildung einsetzte, aber nicht bereit war, mitten in der Nacht aufzustehen, um das Baby zu füttern?
Er schien ihr so weit fort. Aber Alessandro war hier.
Und er war der Richtige. Sie wusste es schon länger.
Wie aber würde er die Nachricht aufnehmen? Wie würde er darauf reagieren, dass sie nicht verhütet hatte? Würde er ihr glauben, dass sie diese Situation nicht provoziert hatte? In Romanen und Filmen verschwand der Herzensbrecher an dieser Stelle stets auf Nimmerwiedersehen. Leonora musste sich eingestehen, dass ihre Lage auf gewisse Weise der ihrer Mutter vor über dreißig Jahren glich. Und die Liebesgeschichte von Elinor und Bruno war bekanntermaßen nicht gut ausgegangen.
Dennoch - den vergangenen Tag hatte Leonora sehr genossen. Nach ihrer Rückkehr vom Friedhof war Alessandro mit ihr zum schwimmenden Gemüsemarkt am Ponte dei Pugni gegangen, wo die Händler ihre Waren von den bragozzo -Booten aus verkauften. Die beiden waren am Kanal entlanggeschlendert, hatten den Duft der orangefarbenen Zucchiniblüten und der Steinpilze eingesogen und mit der Hand über die glatten lilaschwarzen Auberginen gestrichen. Leonora war ganz schwindlig vor Glück gewesen. Wenn er doch nur immer bei ihr sein könnte. Wenn sie doch nur die Kluft zwischen ihnen überwinden könnte! Dabei dachte sie nicht an die räumliche Entfernung, die seine Ausbildung mit sich gebracht hatte, sondern an die innere Distanz, die er zu ihr aufgebaut hatte und die sie jedes Mal spürte, wenn sie mit ihm zusammen war.
Ich weiß genau, dass irgendetwas zwischen uns steht.
Und ihre große Neuigkeit konnte nun alles noch schlimmer machen. Oder womöglich sogar zerstören. Verzweifelt drückte sie mit den Händen fest auf ihren Bauch.
Wenigstens habe ich dich.
Ihr Kind. Sie stellte sich vor, wie es in den nächsten Monaten weiter wachsen und sich in ihr ausdehnen würde. Ihr Bauch erschien ihr wie ein Glaskülbel, der, vom Atem des Lebens erfüllt, wuchs und sich zu vollkommener Form rundete. Sie selbst war nun ein Gefäß, ein sicherer Hort für das Kind in ihr. Sie fühlte sich klar und stark wie Glas. All ihre früheren Hoffnungen wurden erneut lebendig - all die lang vergessenen Träume aus den Tagen, als Stephen und sie sich bemüht hatten, ein Kind zu bekommen. Die Wahl des Namens, die Ausstattung des Kinderzimmers, das Gesicht des Kindes, das sie vor sich sah, wenn sie Stephens und ihre Gesichtszüge im Geiste miteinander kombinierte ... Und nun waren es Alessandros Gesichtszüge, die ihr Kind tragen würde. Selbst wenn Alessandro sie verlassen sollte, hätte sie immer noch das Kind. «Unser Kind», sagte sie laut.
Alessandro drehte sich verschlafen zu ihr um, «Was hast du gesagt?»
Der Augenblick ist da. Ich muss es ihm sagen. Jetzt.
Sie drehte sich auf die Seite und blickte ihn an. Eine goldblonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Alessandro stützte sich auf einen Ellenbogen, strich die Strähne beiseite und streckte die Hand nach ihr aus. Doch bevor er sie berühren konnte, begann sie zu sprechen. «Ich bekomme ein Kind von dir.»
Nach der ersten Überraschung, die sich für einige Sekunden auf seinem Gesicht abmalte, legte er ihr behutsam die Hände auf den Bauch und ließ sie dort ruhen. Dann senkte er den Kopf und legte seine Wange auf ihren Leib. Sie spürte etwas Feuchtes auf der Haut, und als er den Kopf wieder hob, sah sie, dass Tränen auf seinem Gesicht glitzerten. Da wusste sie, dass alles gut werden würde.
Alessandro war stolz und glücklich und rief jeden an, den er kannte, um ihm mitzuteilen, dass er einen Sohn bekommen würde. Davon, dass es auch ein Mädchen werden könnte, wollte er nichts wissen. «Wie kannst du dir so sicher sein?», fragte Leonora ihn lachend, und er antwortete nur: «Ich weiß es eben.» Als sie ihn neckend einen «typischen Italiener» nannte, sagte er: «Nein, nein, cara. Wenn wir ein Mädchen bekämen, würde ich es ebenso lieb haben. Aber ich weiß, dass es ein Junge wird.»
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