Die Glasblaeserin von Murano
man ihm seine beiden Schätze nicht entwendet hatte. Nach drei Anläufen gelang es ihm schließlich, das Messer herauszuziehen. Unendlich langsam schob sich seine Hand mit ihrer Beute wieder nach oben zur Brust.
Zumindest kann ich meinem Leben ein Ende setzen, wenn es mir nicht gelingt, mich zu befreien.
Als das Gefühl in seine Beine zurückgekehrt war und er jeden einzelnen Zeh bewegen konnte, machte sich Corradino daran, die Sackleinwand zu zerschneiden.
Nur Nacht und Erdreich um mich herum. Schwarz und schwer und feucht dringt es mir in Augen und Mund.
Corradino spuckte und hustete und würgte krampfhaft, während er versuchte, sich aus seinem finsteren Grab zu befreien. Duparcmieur hatte ihm versprochen, die Totengräber zu bestechen, damit die Erddecke so dünn wie möglich ausfiel.
Giulietta, dachte er, Giulietta. Dieser Name hatte sich in seinen Gedanken festgesetzt, wie ein Gebet wiederholte er ihn wieder und wieder. Dann betete er das Ave-Maria, bis sein verwirrter Geist sie alle durcheinander warf: die Heilige Jungfrau, die tragische Heldin, seine eigene Mutter und die kleine Leonora, für die er das alles auf sich nahm.
Stundenlang, so wollte es ihm scheinen, grub er, nach Luft ringend, immer in der Angst, sie hätten ihn zu tief eingegraben oder die Erde zu fest gestampft. Vielleicht wollten sie ja gar nicht, dass er sich befreite! Vielleicht hatte er auch die Orientierung verloren und grub sich statt nach oben seitlich voran. Dann käme er nie ans Tageslicht und müsste elend ersticken.
Plötzlich spürte Corradino etwas Kühles, Feuchtes an seinen Fingerspitzen. Blut? Nein, Regen und die nächtliche Brise. Mit berstenden Lungen schaufelte er noch ein paar Erdbrocken beiseite und sog schließlich mit unendlicher Erleichterung die Nachtluft ein. Einige Zeit später kroch er taumelnd und spuckend mit letzter Kraft aus seinem Grab und wischte sich die Krumen aus den Augen. Der strömende Regen verwandelte die Reste der Erde auf seinem Körper sofort in Schlamm.
Nachdem er dieses Abenteuer überstanden hatte, war Corradino überzeugt, dass ihn im Leben nie wieder etwas würde ängstigen können.
Und doch kehrte die Furcht schon bald zurück. Er dachte an die warnenden Worte des Franzosen: «Wenn Ihr es heraus geschafft habt, duckt Euch, damit Ihr nicht entdeckt werdet, und schaufelt schnell die Erde zurück auf das leere Grab. Man weiß nie, wer auf dem Friedhof unterwegs ist, und Ihr möchtet sicher nicht auf einen der Schergen des Zehnerrates stoßen. Kommt dann zur Nordseite der Insel - Ihr könnt Euch dabei nach den Lichtern von San Marco richten - und wartet dort auf mich.»
Corradino tat, wie der Franzose ihm geraten hatte. Nachdem das Grab wieder aussah wie zuvor, robbte er die ersten Meter über den Friedhof, beinahe auf gleicher Höhe mit den Toten, von denen ihn nur eine dünne Erdschicht trennte. Er krallte seine Hände in Grasbüschel und in fremdartige Pflanzen, die aus dem Fleisch der Leichen zu wachsen schienen. Ein paarmal glaubte er, ein gespenstisches Wispern zu vernehmen, und seine Phantasie gaukelte ihm Bilder aus Dantes «Inferno» vor - all die armen Seelen, die verstümmelten Sünder, Verräter wie sein Onkel, Verräter wie er selbst. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Immer weiter kroch er, jeden Augenblick darauf gefasst, in verwesendes Fleisch zu greifen oder das Knirschen vermodernder Knochen unter sich zu spüren. Einmal, als er Halt suchend die Hand ausstreckte, spürte er, wie unzählige dünne Spinnenbeine über seinen Arm krabbelten. Er konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als ihm einfiel, dass dies keine Kreaturen der Hölle waren, sondern die weichschaligen Krabben, die die Fischer in den Gewässern um Venedig fingen. Wenn, so wie jetzt, der Vollmond schien, traten die Tiere in besonders großer Zahl auf, was einen reichen Fang ermöglichte. Corradino schüttelte die Krabben von seinem Ärmel und kroch weiter, doch noch immer klammerten sich einige der Tiere an seinen Arm. Sein Schrecken legte sich ein wenig, als er daran dachte, dass eines der liebsten Gerichte, die er als Kind gegessen hatte, aus diesen Krabben zubereitet wurde. Graziella, die ältliche Köchin im Palazzo Manin, hatte ihn in der Küche zusehen lassen, wie sie die lebenden Krabben in einen Pfannkuchenteig warf, von dem sie so viel verschlangen, dass sie starben. Dann wurden die von Teig überzogenen Krabben gekocht, bis sie von innen weich wie gekochte Eier waren ...
Endlich
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