Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch
Magie; sie wandten sie nur an. Aber vielleicht hatte Tante Lily recht: Vielleicht war es ja wirklich selbstsüchtig von Roses Eltern, das alte Familienbackbuch in einer kleinen Bäckerei in einer winzigen Stadt versteckt zu halten. Was konnte es hier schon Gutes tun? Vielleicht sollte man auch außerhalb von Calamity Falls zaubern – zurückhaltend und unaufdringlich –, um die Welt zu einer besseren zu machen.
Und vielleicht konnte Rose diejenige werden, die diese Art von Zauberei verbreitete.
Tante Lily richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Gefäß, in dem der Zwerg des Ewigen Schlafes saß und schnarchte. »Sieh ihn dir nur an! Der ist ja
entzückend
.«
Rose wollte nicht so weit gehen, ihn entzückend zu nennen, aber er sah in der Tat interessant aus. Er trug eine grüne Zipfelmütze, unter der flaumige weiße Haare wie die Samen von einer Pusteblume hervorquollen. Lily reichte Rose die Taschenlampe und nahm das Gefäß behutsam vom Regal. Sie legte es in die Armbeuge wie ein Neugeborenes, dann stieg sie vorsichtig die Treppe hinauf, wobei sie dem Glas die ganze Zeit zuflüsterte. »Keine Sorge, Kleiner! Dir wird nichts passieren! Mein kleiner Zwerg! Du wunderbarer kleiner Kerl!«
Lily stellte das Gefäß auf den Hackblock und starrte hinein. »Hast du jemals so etwas Wunderbares gesehen?«
Rose blickte durch das spiegelnde Glas des Gefäßes auf das verhutzelte, alte Gesicht des Zwergs. Er trug eine kleine Jacke aus braunem Filz und eine Art langer Unterhose, ebenfalls braun. Er war ungefähr so groß wie Nellas Babypuppe und hatte die Augen so fest geschlossen, dass sich in den Augenwinkeln lauter Fältchen gebildet hatten.
Rose hielt das Glas fest, während Lily die Hände unter die Achseln des Zwergs schob und ihn heraushob. Die Luft in dem Gefäß war abgestanden, und der Geruch erfüllte die Küche. Lily setzte den Zwerg auf den Hackblock. Er schnarchte weiter und lehnte sich im Schlaf in Zeitlupe zu sehr zur Seite und –
Peng!
– knallte mit dem Kopf auf den Hackblock.
Davon wachte der Zwerg schlagartig auf.
Er schüttelte den Kopf und richtete sich missgelaunt auf, dann streckte er die kleinen Arme in die Luft und gähnte. Er hatte eine gefleckte Zunge und war zahnlos.
Es war fast unmöglich, seinen Atem zu beschreiben. Er stank. Nach Abfall und altem Fisch und Fürzen.
Die Glyck-Kinder würgten und wichen zurück, so weit sie konnten, als der faulige Hauch des gähnenden Zwergs den Raum erfüllte. Rose kniff die Augen zusammen und hielt sich die Nase zu, bis der Gestank nachließ.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Zwerg sie anstarrte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und klopfte mit einem Fuß auf. »Ich vermute, du hast mich aus meinem Schlummer geweckt, weil ich ein
Geheimnis
in einen
Teig
flüstern soll?«
»Ja …«, gab Rose zu. Der war ja vielleicht flink, dieser Zwerg.
»Was für eines?«, knurrte er.
Tante Lily sagte: »Das Geheimnis der Zeit?«
Der Zwerg kratzte sich eine Weile das Kinn und dachte angestrengt nach. »Das Geheimnis der Zeit … das Geheimnis der Zeit …«
Dann fuhr sein Kopf hoch, und er verkündete mit tragischer Stimme: »Das Geheimnis der Zeit habe ich vergessen!«
Rose machte ein enttäuschtes Gesicht. Sollte nach all der Arbeit ihre Hoffnung, die sie in die Brombeertorten gesetzt hatte, zunichtegemacht werden, nur weil sich ein alter Zwerg nicht erinnern konnte?
Dann kicherte der Zwerg hämisch. »Ha! Angeführt! Ich habe nur Spaß gemacht.
Natürlich
kenne ich das Geheimnis der Zeit. Also
bitte
!«
»O danke, Zwerg des Ewigen Schlafes!«, rief Rose. Unter normalen Umständen hätte sie ihn wohl gedrückt, doch er roch zu eklig, um ihm nahe zu kommen.
»Ich habe einen Namen«, sagte er verärgert. »Rüdi.«
»Entschuldige, ich wollte nicht rüde sein.«
»Nein, ich
heiße
Rüdi, eigentlich Rüdiger. Rüdiger Dingherwurst.«
Rüdi merkte, dass ihn Tante Lily aus der Ecke liebevoll anstarrte. »Ich werde das Geheimnis der Zeit flüstern, wenn sie« – er deutete auf Lily – »mich über den Teig hält.«
Tante Lily machte eine Verbeugung. »Für Sie tue ich
alles
, Mr Dingherwurst.«
»Wenn Sie mich fallen lassen, müssen Sie mich heiraten«, sagte er mit hämischem Kichern. »Nein, ernsthaft.«
Lily lachte. »Dann lass ich Sie vielleicht sogar fallen!« Und sie hob den Zwerg unter den Armen hoch und schlenderte mit ihm hinaus.
Rose und ihre Brüder versammelten sich um die dampfende Satellitenschüssel,
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