Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch
Tante Lily hatte so eine reizende Unverfrorenheit an sich, hübsch und kontrolliert wie sie war, vermischt mit einem Hauch von Gefährlichkeit. Heute fühlte sich Rose ihrer Tante näher als je zuvor. Vielleicht brauchte sie stets ein Vorbild wie Tante Lily in ihrer Nähe – jemanden, der ihr half, so sagenhaft zu sein, um auch bewundert zu werden.
Sie konnten hören, wie Mrs Carlson verzweifelt versuchte, Nella in ihrem Zimmer zu beruhigen. »Kleiner Satan! Hör mit deinem Gekläffe auf! Warum schläfst du nicht?«
Rose und Tante Lily sahen sich nervös an.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Lily. »Wir müssen einen Sorgenkocher bauen, sofort. Ich habe zwar noch nie einen gebaut, aber ich habe mal bei einem Familientreffen gesehen, wie einer in Betrieb war. Es war ein riesiger Kessel, der in einem noch größeren Kessel steckte, der mit kochendem Wasser gefüllt war.«
»Wie riesig?«
»Sehr riesig.«
Rose ging in den Garten und sah sich unter dem Schrott um, der in der Nähe des Schuppens herumlag. Ein altes Ruderboot aus Blech. Das kaputte Trampolin. Eine riesige Satellitenschüssel, die mal bei einem Gewitter durchgebrannt war, die ihr Vater aber immer noch nicht weggeworfen hatte.
Nach einer Minute, war die Idee geboren. »Ich weiß, wie!«, sagte Rose.
Und so machten sich Rose und Tante Lily daran, den größten Sorgenkocher zurechtzubasteln, der jemals gebaut worden war. Sie entfernten das zerrissene Sprungtuch aus dem Trampolin und entzündeten unter dem Rahmen ein Feuer aus Holzscheiten und Zeitungspapier. Sie wuschen das alte Blechboot aus und wuchteten es darüber, dann füllten sie es mit Wasser. Und sie reinigten die riesige kaputte Satellitenschüssel und setzten sie in das Wasser in dem Ruderboot.
Tante Lily klopfte Rose auf den Rücken. »Wie sie in England zu sagen pflegen, Rose – brillant!«
Die ganzen düsteren Verdächtigungen, die Rose in den vergangenen Tagen gegen Tante Lily gehegt hatte, lösten sich angesichts ihres Lobes in Wohlgefallen auf.
Schließlich kamen die Jungen mit der letzten Wagenladung Eier, Schokolade und Brombeeren die Einfahrt entlang. Basil machte sich daran, kiloweise Schokolade in die Satellitenschüssel zu werfen und Hunderte von Eiern hineinzuschlagen. Tante Lily schürte das Feuer, und Tymo und Basil wechselten sich ab, mit einem der alten Paddel des Ruderboots umzurühren. Rose sah einfach nur zu, wie kleine Funken von dem Feuer knisternd in die Dunkelheit des warmen Nachthimmels stoben. Sorgenkocher waren ja schön und gut, fand sie, aber dass sie und ihre Brüder an einem Donnerstag im Juli mitten in der Nacht zusammen backten, zusammen lachten: Das war
wahrlich
Zauberei.
Nachdem alle Zutaten verrührt waren, und Rose die Unmengen von Eierschalen in einen Müllsack gestopft hatte, war es an der Zeit, schwerere Geschütze aufzufahren.
»Lasst uns den Zwerg holen«, sagte Rose.
Rose drehte an dem Nudelholzgriff. Die Bodenplatte glitt zur Seite, und dumpfer Kellergeruch stieg in den Kühlraum.
»Der Zwerg ist da unten«, erklärte Rose und nahm Tante Lily bei der Hand. Als sie unten in der Kammer waren, ließ Lily den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe an den Gefäßen mit Erde, Wind, Feuer, schlagenden Schmetterlingsflügeln und sprechenden Pilzen entlanggleiten.
Rose spürte, wie sich der feuchte Nebel aus dem Schachtgitter um ihre Knöchel legte.
Lily musste es wohl auch gespürt haben, denn sie trat auf das Gitter zu und kniete sich davor. Rose konnte es nicht sprechen hören, aber andererseits hatte sie ja auch nicht direkt einen Ton vernommen, als das Ding unter dem Haus zu ihr gesprochen hatte.
Tante Lily kroch einen Augenblick später weg von dem Gitter und sah Rose ernst an.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rose.
»Sicher. Es ist nur ein bisschen kühl hier unten.« Lily wandte ihre Aufmerksamkeit den Gefäßen an der Wand zu. Jedes Mal, wenn sie an einem vorüberging, leuchtete es ein wenig heller. Sie näherte sich einem Glas mit einer riesigen Libelle. Auf dem Etikett stand
Flucht
. Die Libelle duckte sich hinten in das Glas, als sie vorbeiging. »Das ist ja eine beeindruckende Sammlung. Zaubern, das bedeutet nicht automatisch Zauberstäbe und Zaubersprüche und Zaubertränke, verstehst du? Einiges – die beste Art zu zaubern, wie ich finde – ist viel raffinierter. Wie diese Sachen hier.«
Rose war freudig erregt über Tante Lilys Worte. Sie hatte es genau so ausgedrückt, wie Rose es auch empfand. Ihre Eltern redeten niemals über
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