Die Glücksparade
einen Grundrissplan vor sich auseinander und drückte ihn mit den Fingern an die Wand, so fest, dass die Nägel an der Kuppe weiß wurden.
«Neunundzwanzig Quadratmeter im Ganzen», sagte er.
Ich schritt die lange und die kurze Wand ab und versuchte mir vorzustellen, wie viel Mal ich hier hineinpassen würde, wenn ich mich flach auf den Boden legte. Von der Vorderseite bis zur Rückseite der Kammer fast zweimal, von der Tür bis zur Seitenwand einmal und noch einmal bis zum Gürtel, dachte ich und musste fast lachen bei dem Gedanken. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Im Türschatten war ein zwei Finger breites Loch in der Wand, wo die Klinke die weiße Hartfaserverkleidung durchschlagen hatte.
«Da gab es wohl mal Streit», sagte mein Vater, der die Stelle im gleichen Moment bemerkt haben musste. Ich befühlte sie und fasste in das Loch. Wenn ich die Finger zusammenschob, konnte ich meine Hand ein Stück in den Spalt stecken. Nicht sehr weit. Drei Zentimeter, vielleicht auch vier.
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[3]
Wir zogen im März um. Es war ein kalter Monat, grau und eisig, mit einer Sonne, deren Strahlen immer durch Milchglas zu fallen schienen. Im Fernsehen hieß es, die niedrigen Temperaturen seien für diese Jahreszeit ungewöhnlich, und ob das die Wahrheit war oder nicht, wir spürten es, als wir unsere Sachen aus der Wohnung zum Campingplatz brachten. Schon nach wenigen Minuten im Freien hatte man steife Finger und an den Knöcheln Risse in der Haut, durch die das Blut schimmerte. Einiges transportierten wir in dem dunkelroten Passat, den meine Eltern fuhren, solange ich denken konnte. Mein Vater nannte ihn den
Roten Blitz
, nach einem Rennpferd, auf das er mal gesetzt hatte. Es hatte mit einer hohen Quote gewonnen, und wenn er gut gelaunt war, behauptete er, am liebsten hätte er das Pferd selber von dem Geld gekauft, aber ein Auto wäre praktischer in der heutigen Zeit. Wir bauten die Rückbank aus, brachten sie in unseren Flur, und dort wurde sie zur Ablage für alles, was man in dem Durcheinander aus Tüten und Kartons irgendwie loswerden musste.
Für die letzte Fuhre mietete mein Vater einen Kleinlaster. Außer mir hatte er noch einen Nachbarn gefragt, ob er uns zur Hand gehen könne. Er hieß Roland Berg, wohnte zwei Etagen unter uns, und ich konnte mich nicht erinnern, je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, wenn ich ihm im Treppenhaus begegnet war. Dass er mir überhaupt aufgefallen war, lag an seiner altmodischen Brille, die der glich, die mein Opa gehabt hatte, mit einem dicken braunen Gestell, und an den Henkelplastiktüten, in denen er seinen Müll über Nacht neben seine Tür stellte, bevor er ihn im Laufe des nächsten Tages nach unten trug.
An diesem Samstag hatte meine Mutter sich morgens von ihrer Schwester abholen lassen, um mit ihr in ein Einkaufszentrum zu fahren, das erst einige Wochen zuvor neu eröffnet hatte. Dort gab es nicht nur Geschäfte, sondern auch ein großes Kino, und mein Vater hatte darauf gedrängt, dass die beiden sich einen
schönen Tag
machten, während wir diesen Teil des Umzugs erledigten. Als die beiden mich allein gelassen hatten, wartete ich darauf, dass mein Vater mit dem Lastwagen kommen würde. Meine eigenen Sachen hatte ich schon gepackt. Es war nicht viel, vor allem Kleidung, Schulzeug und Spielsachen, die ich nicht mehr benutzte, und meine Comics. Ich ging durch alle Zimmer. Die Gardinen waren schon abgenommen, und dadurch veränderte sich alles, es kam mir vor, als wären nicht nur die Fenster kahl, sondern auch die Wände verschwunden und als könnte man einfach nach draußen gehen oder nach unten fallen, wenn man zu nah an den Rand kam.
Später standen wir in der Küche und sprachen darüber, in welcher Reihenfolge wir was in den Container bringen würden. Mein Vater sagte, er werde nächstens Tomaten pflanzen, auch anderes Gemüse und vielleicht sogar einen Kirschbaum. Er machte Witze über unseren Vermieter, und ich fühlte mich plötzlich wohl dabei und mit der Vorstellung, dass bald so etwas wie ein neues Leben für uns beginnen würde. Ich trommelte sogar kurz mit zwei Schraubenziehern auf die Platte des Küchentischs wie ein Schlagzeuger, und dazu trat ich den Deckel des Mülleimers mit dem Pedal hoch, sodass er gegen die Wand schepperte.
Gegen elf kam Roland und half uns, die Möbel und den Fernseher nach unten zu tragen und im Laster zu verstauen. Eine weiße Kommode brach bei dem Versuch, sie zu zerlegen, so auseinander, dass mein Vater
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