Die Glücksparade
klar denken.» Er zeigte auf die Straße. «Du musst im Schnee rumtrampeln», sagte er. «Um deine Spuren zu verwischen.»
Ich wartete ab, weil es so geklungen hatte, als würde jedem Satz, den er sagte, noch einer folgen, der alles erklärte. Aber es kam keiner, und ich begriff, dass er selbst nicht mehr wusste, was er sagte, und sich das, was geschehen war, nicht erklären konnte. Er wusste nicht mehr, was richtig war und was nicht, hatte es vielleicht nie gewusst und musste es sich in diesem Moment hier draußen in der Kälte und in der Nacht eingestehen.
«Wenn es weiterschneit, wird man sowieso bald nichts mehr sehen», sagte ich, und als ihm klarwurde, dass ich recht hatte, löste sich etwas in seinem Gesicht, und es war, als hätte ich ihm die beste Nachricht überbracht, die er je bekommen hatte.
«Das stimmt», sagte er. «Das ist gut, wirklich gut.»
Er setzte sich so, dass sein Oberkörper und seine Eskimokapuze aufrecht vor mir aufragten.
«Dann ist es besser, wenn du jetzt gehst», sagte er. «Ich ruf spätestens morgen an. Und nimm die Decke mit.»
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[25]
Ich schaute über den Fluss und sah zu, wie die Sanitäter die Trage aufhoben und in das helle Innere des Krankenwagens schoben, wie sie die Klappe schlossen und abfuhren. Dann ging ich weiter. Ich lief in der Mitte der Straße zwischen den nackten Pappeln. Vom Fluss wehte ein scharfer Wind, und in der Luft war ein leises Prasseln. Ich hängte mir die zusammengerollte Decke über den Nacken und bedeckte meine Ohren, die von der Kälte betäubt waren, mit den Händen.
Bevor ich unter der Schranke zum Campingplatz durchschlüpfte, drehte ich mich noch einmal um. Durch die kahlen Bäume sah ich das Licht über der Brücke. Es fiel von der Laterne in einem Kegel auf die Holzplanken, nur konnte ich weder die Laterne noch die Straße und die Brücke sehen. Die Stämme und Äste der Pappeln standen dazwischen und ragten oben ins Schwarz, und das Licht sah aus, als schwebte es in der Luft.
Eine Sekunde lang kam es mir vor, als könnte ich all diejenigen, die in den letzten Monaten hier gewesen waren, hintereinander über die Brücke gehen sehen, in einer langen Parade, die mein Vater anführte und die jenseits des Flusses im Dunkel verschwand. In diesem Moment beschloss ich, auf keinen Fall zurückzugehen in unseren Container. Es gab nichts, was mich dazu hätte bringen können, jetzt allein dort drinnen zu sitzen wie an irgendeinem Abend.
Eine Weile stand ich im verschneiten Gras und überlegte, wohin ich gehen könnte. Es gab nicht viele Möglichkeiten, im Augenblick eigentlich gar keine, und dann ging ich trotzdem weiter, zwischen den anderen Wagen durch, die alle dunkel waren, zu Bubis Hänger, dem letzten vor der großen Wiese mit den Wagen der Schausteller und den leeren Stellflächen, die sich undeutlich vom Schnee abhoben.
Die Vogelscheuche stand unbeweglich und krumm wie immer, auch sie hatte inzwischen eine weiße Haube. Ich schob meinen Arm unter den Kotflügel, dabei berührte etwas Kaltes meine Hand. Ich zog die Hand schnell wieder hervor und betrachtete sie, und als ich sah, dass mich nur ein Wassertropfen getroffen hatte, steckte ich sie noch einmal vorsichtig unter die Wölbung. Die Dose war noch da, ich spürte ihren Rand, bekam sie zu fassen, und ich fand auch den Schlüssel. Bevor ich ihn ins Schloss steckte, schlug ich ein paarmal fest gegen die Tür.
Drinnen war es dunkler, als ich es erwartet hatte. Ich tastete mich die Wand entlang, bis ich mit den Fingern an den Gurt des Rollladens stieß. Er ließ sich überraschend leicht nach oben ziehen, und dadurch wurde es etwas heller. Von innen sah der Wagen aus wie ein Bus, aus dem alle Sitze rausgerissen worden sind. Ein Bett und einen Sessel konnte ich deutlich erkennen, auch die Jacke, die über einem Bügel neben der Tür an einem Haken hing. Auf der rechten Seite gab es eine Spüle, zwei Kochplatten und einen Vorhang aus langen, breiten Plastikstreifen, hinter dem das Bad sein musste.
Nachdem ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, fühlte ich mich wie im Bau eines Tiers. Ich atmete ein und wieder aus, bewegte mich nicht und schaute nur zu, wie mein Atem eine oder zwei Sekunden lang als Wolke in der kalten Luft hing und sich dann auflöste. Dann setzte ich mich aufs Bett, schob meinen Hintern und meine Beine ganz auf die Matratze und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. Ich schloss kurz die Augen und atmete langsamer, so langsam ich konnte.
Mein
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